Die Söhne der Wölfin
hinderte ihn nicht daran, am nächsten Tag für seinen Bruder auf einen Baum zu klettern, um für ihn die ersten reifen Äpfel herunterzuholen. Bei einer solchen Unternehmung brach er sich einmal fast den Hals; zum Glück erntete er letztendlich nichts Schlimmeres als einen verstauchten Knöchel und einen ausgerenkten Arm, als der Ast unter ihm wegbrach und er zu Boden stürzte. Der Vater renkte den Arm wieder ein, doch Remus mußte ihn noch ein paar Wochen in einer Schlinge tragen und konnte humpelnd längst nicht so viel tun wie sonst.
Es war für Romulus eine schöne Zeit. Der Vater benötigte ihn dringender denn je, und da Remus’ Freunde rasch die Geduld verloren und lieber ohne ihn unbehindert durch die Gegend streiften, brauchte auch Remus ihn mehr als jeden anderen. So in Anspruch genommen zu werden war auf angenehme Weise erschöpfend. Während er mit dem Vater die Tiere versorgte, dachte er sich ständig neue Geschichten für Remus aus, keine schaurigen, nur schöne, und gab sie dann seinem durch erzwungenes Nichtstun gelangweilten Bruder zum besten, ganz gleich, wie anstrengend der Tag auch gewesen war. Remus erwies sich als dankbarer Zuhörer. Am besten gefiel ihm die Geschichte, in der sie ihre Mutter aus den Klauen eines Unterweltsdämons befreiten, der sie gefangenhielt.
Die Zwillinge mußten wegen ihrer Mutter ständig Neckereien einstecken. Einige Kinder behaupteten, daß sie überhaupt keine Mutter besaßen, daß Faustulus sie im Wald gefunden hätte, bei einer Wölfin, und daß sie nur zur Hälfte Menschen seien. Als Remus die Geschichte als gemeine Lüge bezeichnete, wurde er gefragt, warum denn niemand im Dorf die Mutter je zu Gesicht bekommen habe, und darauf wußten die Zwillinge alle beide nichts zu sagen. Erst Numa, der Sohn des reichen Pompilius, der viel älter war und kaum noch mit ihnen spielte, konnte ihnen helfen. Als er die Sache von der Wölfin hörte, lachte er und erklärte, er habe das Weib des Faustulus seinerzeit selbst gesehen, als sie ihre Kinder noch im Bauch trug.
»Wie sah sie aus?« drängte Romulus, denn der Vater sprach nie über die Mutter.
Numa zuckte die Achseln. »Wie eine schwangere Frau eben. Sie war eine von den Tusci, deswegen hat sie wohl nicht viel gesagt. Aber«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »sie hat mir prophezeit, daß ich ein großer Mann werde. Also benehmt euch!«
Gelegentlich kamen Tusci ins Dorf, um Tribut für den König von Alba einzutreiben, aber die Zwillinge bekamen sie nie zu sehen, weil der Vater ihnen streng verbot, bei solchen Gelegenheiten das Haus zu verlassen, und immer entweder selbst da war oder jemand anders eingeladen hatte, um dafür zu sorgen, daß sie sich auch daran hielten. Als sich Remus erkühnte, ihn nach dem Grund zu fragen, knurrte er nur, die Tusci hätten ihn jahrelang gefangengehalten und er wolle nicht, daß ihnen desgleichen geschehe. Den Tusci könne man nicht trauen, sie seien alle üble Schurken.
Remus gab sich damit zufrieden; es war Romulus, der den Satz wiederkäute wie eine Kuh ihr Gras und schließlich verkündete: »Aber wenn die Tusci so schlimm sind, warum hat er dann eine von ihnen geheiratet?«
»Vielleicht irrt sich Numa auch«, meinte Remus hoffnungsvoll, »und unsere Mutter war gar keine von den Tusci.«
Sie brachten es nicht über sich, den Vater selbst zu fragen. Niemand sprach in seiner Hörweite von ihrer Mutter. Einmal begann Pompilius: »Faustulus, du solltest dir ein neues Weib nehmen, für den Hof, das Lager und die Kinder«, und der Vater drehte sich an Ort und Stelle um und stapfte davon. Manchmal hielt er abends eine Doppelflöte in den Händen und ein altes blaues Tuch und starrte ins Feuer.
Was den Zwillingen im Ort sonst über die Tusci zu Ohren kam, ließ die Wölfin fast als die bessere Abstammungsmöglichkeit erscheinen. Die Tusci lebten reich und mächtig in ihren Städten und verpraßten den ganzen Tag das Gut, welches die armen Latiner mühsam erwirtschafteten. Viele von ihnen waren Magier, und deswegen hatten sie auch vor Jahren das Land rauben können; ursprünglich hatte alles den Latinern gehört. Die Tusci hielten sich für etwas Besseres und schauten auf die Latiner herab; dabei waren sie selbst zu den Ihren grausam und gottlos.
»Denkt euch«, berichtete Numa, der im Gegensatz zu den jüngeren Kindern bereits selbst in Alba gewesen war, »der König dort hat seinen eigenen Bruder vom Thron gestoßen, verkrüppelt und in die Verbannung geschickt. Dann seine
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