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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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dir. Aber ich bin froh, daß du mich heute nacht nicht allein gelassen hast. Ich glaube, ich hätte es sonst nicht überlebt.«
    Er wurde sich plötzlich bewußt, daß er nackt war und sich zum ersten Mal in seinem Leben nicht fragte, ob ihn jemand sehen konnte, sich seiner Unnatürlichkeit nicht schämte. Die Angst, so lange sein ständiger Begleiter, war von ihm gewichen.
    »Sie wird dir Schwierigkeiten machen«, fuhr er fort, »die Herrin Nesmut, meine ich. Wenn der Junge nicht ohnehin alles vergißt und dich keines weiteren Blickes mehr würdigt. Außerdem gibt es da noch seine zukünftige Frau.« Er sog die Nachtluft in sich hinein, ließ die angenehme Kühle seine Lunge ausweiten und über seine Haut streichen, dann lächelte er. »Aber ich bin überzeugt, du wirst damit fertigwerden.«
    »Nicht allein«, antwortete sie. Das Mondlicht schien in ihre dunklen Augen einzutauchen, ohne eine Spur zu hinterlassen. »Ich glaube, ich würde sonst auch nicht überleben, Ulsna. Wenn du wirklich willst, dann werde ich dir jetzt schon irgendwie deine Freiheit wiederbeschaffen, aber ich möchte es nicht. Sag, daß du mich nicht verläßt. Sag es jetzt gleich.«
    Er schwang sich von seinem Fenstersims herab, machte den nötigen Schritt auf sie zu, nahm ihre rechte Hand, die reglos herabhing, und berührte sie leicht mit den Lippen.
    »Ich werde dich nie verlassen, meine Göttin. Bis zu dem Tag, an dem du mich verläßt.«

III
    DER PREIS
    Niemand, der sie zum ersten Mal sah, hielt Romulus und Remus für Zwillinge, obwohl sie einander genügend ähnelten, um auf eine Verwandtschaft schließen zu lassen. Beide hatten die gleichen feingezeichneten Augenbrauen, die gleiche Stupsnase und die gleichen lockigen braunen Haare. Damit hörte die Ähnlichkeit jedoch auf. Für Romulus war die Verwunderung, die sich in den Augen von Fremden zeigte, wenn der Vater oder Remus das Wort »Zwilling« in den Mund nahmen, der Stachel, der ihn begleitete, seit er denken konnte. Remus wuchs schneller, Remus war kräftiger, und Remus ging auf die Leute mit einem offenen Lächeln zu, so daß jeder ihn mochte. Außerdem brachte es Remus irgendwie fertig, nie krank zu werden. Romulus dagegen war kleiner, dünner, und es verging kein Winter ohne eine schlimme Erkältung bei ihm. Einmal, als ihn neben dem üblichen Husten und Schnupfen auch noch ein gehöriges Fieber plagte, hörte er, wie Pompilia, die seinem Vater bei der Pflege zur Hand ging, sachlich erklärte, es würde sie wundern, wenn »der Kleine« überhaupt alt genug werde, um auf den Feldern mitzuhelfen. Als er wieder gesund wurde, fing er einige Kröten und setzte sie Pompilia in den Korb mit Wäsche, die sie gerade im Fluß gewaschen hatte.
    Pompilia, das Weib des wichtigsten Mannes im Dorf, war nicht die einzige, die Romulus nicht viel zutraute. Bei Prügeleien mit den anderen Kindern zog er nur dann nicht den kürzeren, wenn Remus dabei war. Remus konnte es nicht ausstehen, seinen »kleinen Bruder« verprügelt zu sehen, und er schlug sich mit jedem, der es versuchte. Es war schwer, ihm dafür dankbar zu sein, wenn man später als Schwächling gehänselt wurde. Deswegen arbeitete Romulus verbissen daran, stärker zu werden. Er bestand darauf, die schweren Milcheimer allein zu schleppen, und rannte jeden Tag bis zu ihrem alten Gehöft hinaus.
    Es gehörte ihrem Vater, und früher, das wußten die Zwillinge, hatten sie dort gelebt. Manchmal spielten sie immer noch da, wenn der Vater sie nicht brauchte. Weil der Hof von Ruinen umgeben war, behaupteten die Leute im Dorf, es spuke. Einmal kam Romulus auf die Idee, sich eine besonders schaurige Geschichte über Erscheinungen in den Ruinen auszudenken und dann die anderen Kinder zu einer Mutprobe aufzufordern, nämlich sich in der Nacht dorthin zu begeben. Es war höchst befriedigend zu erleben, wie alle vorschützten, ihren Eltern nicht entkommen zu können.
    »Aber es spukt doch nicht wirklich dort«, bemerkte Remus, der Romulus nicht widersprochen hatte, hinterher. »Das war ein Spaß, oder? Ich habe jedenfalls noch keinen Geist da gesehen.«
    »Du siehst nie etwas«, gab Romulus zurück und wich einer Kopfnuß seines Bruders aus.
    Nicht, daß Remus ihm böse war. Remus wurde schnell wütend, aber er war unfähig, jemandem länger zu grollen. Mit den Jungen, die er verprügelte, streunte er tags darauf wieder durch die Gegend. Sich mit Romulus darüber zu streiten, wer den Vater auf die Jagd begleiten und wer bei den Herden bleiben würde,

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