Die Söhne der Wölfin
es. Teil des Rituals. Ich habe das noch nie getan, wißt ihr - dieses Ritual, meine ich. Alles andere selbstverständlich schon.«
Ulsna, der selbst das Salz der Tränen auf seinen Wangen spürte, sich nichts mehr als Schweigen wünschte und sich weniger und weniger auf die fremde Sprache konzentrieren konnte, fühlte dennoch einen Funken Mitleid über den dringenden Wunsch hinaus, Psammetich möge sich endlich zurückziehen. Wenn er es recht bedachte, konnte Psammetich nicht älter sein als er selbst. Vielleicht war der Ägypter sogar jünger. Nach der vergangenen Nacht erschien es ihm nicht unwahrscheinlich, daß die finstere Miene lediglich dazu dienen sollte, jugendliche Unsicherheit zu verbergen. Allerdings hatte er genügend schmerzende Stellen, um sein Mitleid mit Psammetich nicht allzu groß werden zu lassen.
»Die Götter werden mit dir zufrieden sein, Herr«, sagte Ulsna versöhnlich, in der Hoffnung, dies werde Psammetich genügen und ihn zum Schlafen oder zum Verschwinden bringen. Seine Hoffnung erwies sich als vergeblich; offenbar sah sich Psammetich erst recht zu weiteren Äußerungen ermutigt.
»Die Götter vielleicht«, knurrte er, »aber meine Mutter erst dann, wenn ich ihr einen Enkel beschert habe und auf dem Thron von ganz Ägypten sitze. Sie ist wie ein gefräßiges Krokodil, das nicht genug kriegen kann. Mein Vater hätte in Sais gut regieren können, aber nein, sie will ihn die Doppelkrone tragen sehen, und jetzt bin offenbar ich an der Reihe. Es ist nicht zum Aushalten mit ihr!«
»Wenn du verheiratet bist, Herr«, erklärte Ilian pragmatisch, »wirst du deinen Wohnsitz nehmen können, wo immer es dir beliebt, und du wirst deiner Mutter nicht mehr so häufig zu begegnen brauchen. Aber sei gewarnt, du magst feststellen, daß sie nicht die einzige ist, die dich auf dem Thron sehen will.«
Psammetich überraschte Ulsna, der immer dringender wünschte, die Götter, ob nun die Ägyptens, der griechische Apollon oder die der Rasna, würden umgehend einen Schweigezauber verhängen, mit der durchaus vernünftig klingenden Erwiderung:
»Oh, es ist nicht so, daß mir der Gedanke grundsätzlich widerstrebt. Aber meine Mutter will immer alles gleich, und so geht das nicht. Ich habe die Assyrer in Waffen gesehen, und die Nubier. Dagegen ist alles, was wir haben, veraltet, wenn es nicht die griechischen Söldner selbst mitbrachten. Da hilft es uns auch nicht, daß wir Ägypter zehnmal mehr Soldaten aufbringen könnten, wenn wir vereint wären.«
»In meiner Heimat gibt es Zinn, Kupfer und Eisen«, sagte Ilian, und gerade als Ulsna befürchtete, sie würde an Ort und Stelle mit einer Debatte über die ägyptische Zukunft und über mögliche Lieferungen beginnen, fuhr sie mit einem Unterton von Heiterkeit fort, »und wir haben dich ebenfalls in Waffen gesehen, Herr.«
Von der anderen Seite des Bettes her hörte Ulsna ein belustigtes Schnauben, und dann sagte Psammetich geschmeichelt: »Danke.«
Zu Ulsnas großer Erleichterung stellte sich das als sein letztes Wort in dieser Nacht heraus. Nach einer Weile begann der zukünftige Mächtige Ägyptens sanft zu schnarchen. Ulsna erhob sich und kletterte auf den breiten Fenstersims, um zu den Sternen emporzusehen. Ihm war gleichzeitig glücklich und sterbenselend zumute. In der lauen Nachtluft konnte er die Nilpferde hören und fragte sich, seit wann er die einzelnen Geräusche in diesem fremden Land beim Namen nennen konnte.
Er war nicht überrascht, als Ilian ihm nachkam. Das Mondlicht nahm ihrer Gestalt die Bräune und verwandelte sie in einen silbernen Schatten, der sich mit angezogenen Knien auf die andere Seite des Simses setzte.
»Es wird nie wieder geschehen, nicht wahr?« fragte Ulsna.
»Nein.«
»Verrate mir nur eins. Hast du das alles irgendwie eingefädelt, um die Möglichkeit zu erhalten, auf Psammetich Einfluß zu nehmen?«
»Ulsna«, erwiderte Ilian und seufzte, »du überschätzt meine Planungskünste. Ich bin keine Spinne, die jederzeit und überall anfangen kann, ein Netz zu weben, weißt du? Ich wollte einfach, daß du heute nacht nicht allein bist. Es ist schlimm«, setzte sie traurig hinzu, »in solchen Nächten allein zu sein.«
»Keine Spinne, Ilian«, sagte Ulsna versonnen und fragte sich, wie es möglich war, diese Mischung aus Elend und Zufriedenheit im Herzen zu tragen. »Ich weiß nicht, was du bist. Eine von diesen Sphinxen vielleicht. Ein Teil Göttin, ein Teil Kind, ein Teil Tier, und nichts, nichts von einem Menschen an
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