Die Somalia-Doktrin (German Edition)
er noch an Familie gehabt hatte, war bei dem Massaker im Lager umgekommen. Seine Überlebenschancen waren gering, vor allem wenn die Milizen ihn fanden. Aber er musste da einen Weg herausfinden, um mit seinem Sohn irgendwo halbwegs in Frieden leben zu können. Vielleicht sollte er die Flüchtlingslager von Dadaab in Ostkenia gleich auf der anderen Seite der somalischen Grenze zu erreichen versuchen. Er wusste dort noch einige Angehörige seiner Frau.
Er versuchte sich daran zu erinnern, wie seine Frau ausgesehen hatte. Er fand ein Bild ihres runden braunen Gesichts und ihrer warmen braunen Augen und hielt es für einige Sekunden fest. Dann jedoch löste es sich wieder auf und wurde zu einem Bild ihrer Leiche auf dem Boden ihrer Hütte: vergewaltigt, erstochen, weggeworfen wie ein altes Hemd. Er schüttelte den Kopf, um die finsteren Gedanken loszuwerden. Sie hingen wie Spinnweben in den Winkeln seines Verstands.
Er hörte eine Bewegung zu seiner Rechten. Mit zusammengekniffenen Augen meinte er ein Bündel Kleidung in der Ecke zu sehen. Nur bewegte es sich. Abdi erstarrte. Eine Frau stand auf und streckte die Arme. Sie schüttelte zwei weitere Bündel zu ihren Füßen. Ein Mann und ein Mädchen setzten sich träge auf.
Die Sonne stieg jetzt rasch an den Himmel. Ein Strahl traf Abdis Gesicht. Das Mädchen sah ihn und richtete mit stockendem Atem einen Finger auf ihn. Der Mann sprang auf und fiel über Abdi her, noch ehe er reagieren konnte. Sekunden später spürte Abdi ein Messer am Hals.
»Was willst du?«, zischte der Mann ihm ins Ohr.
Von panischem Schrecken erfüllt, brachte Abdi keinen Ton heraus.
»Wer bist du?«, flüsterte der Mann.
»Abdi Karim Abdul. Aus Somaliland.«
»Was machst du hier?«
»Ich wurde von Milizen entführt. Ich versuche nach Hause zu kommen.«
Khalid regte sich zu ihren Füßen.
»Und er?«, fragte der Mann.
»Mein Sohn.«
»Was ist mit ihm?«
»Ein Milizmann hat ihn geschlagen.«
Der Griff des Mannes lockerte sich. Vielleicht dachte er, ein Mann und sein verletzter Sohn stellten keine so große Bedrohung dar, auch wenn man hier niemandem trauen konnte. Er tastete Abdi nach verborgenen Waffen ab und trat einen Schritt zurück.
Khalid schreckte aus dem Schlaf. Abdi nahm ihn in die Arme. Der Mann sprach leise mit der Frau, die wohl seine Gattin sein musste. Er kam wieder zu Abdi zurück.
»Wo in Somaliland?«
»Hargeysa, aber wir waren in einem Lager nahe der äthiopischen Grenze. Mein Haus in Hargeysa wurde bei den Bombenangriffen zerstört.«
»Wir sind auch aus Somaliland«, sagte der Mann. »Wir sind vor zehn Jahren geflohen, Wir sind Isaaq.«
Abdi dankte Allah. Sie waren vom selben Clan! Ihre Überlebenschancen hatten sich damit verzehnfacht.
»Wir auch«, sagte er mit einem Lächeln. »Wir auch.«
»Wie sieht es denn da oben aus?«
»Man hat mit dem Wiederaufbau von Hargeysa begonnen. Gekämpft wird kaum noch. Aber viele leben noch in Lagern, bis das Leben sicherer ist. Bis die Miliz angriff.«
»Bleibt bei uns«, sagte der Mann. »Wir verstecken euch vor den Milizen. Ihr könnt mithelfen, nachts Wache zu schieben. Je mehr wir sind, desto sicherer sind wir.«
»Gut«, sagte Abdi. »Ich bin dabei.«
Der Mann stellte sich als Samatar Abukar Bahdoon vor. Er sprach schnell, manchmal fast zu schnell. Seine Frau Haweeya war still und bescheiden, lauschte aber jedem Wort ihres Gatten und nickte an den richtigen Stellen. Sagal, die Tochter der beiden, musterte Khalid mit Interesse. Sie sah einige Jahre älter aus. Alle waren in Lumpen gekleidet: alte Sachen, die vermutlich irgendwann einmal akzeptabel gewesen waren. Jetzt waren sie ihr ganzer Besitz.
Eine Explosion zerriss die Luft. Sie warfen sich auf die Erde, aber nichts passierte. Sie war zu weit weg.
Abdi spähte durch ein Loch in der Wand. »Ein Technical«, sagte er, als er den Jeep mit dem abgeschnittenen Dach sah, der die Straße heraufkam. Ein grinsender Jugendlicher hielt die beiden Griffe des schweren Maschinengewehrs umklammert, das statt der rückwärtigen Sitzbank aufmontiert war. Der Jugendliche verschoss eine Salve. Ein anderer junger Kerl neben ihm gab hier und da einen Schuss aus seiner Kalaschnikow ab. In einiger Entfernung antwortete ein MG. Der Junge mit der AK-47 sackte zusammen. Der andere sah ihn an wie vor den Kopf geschlagen und begann dann wie wild zu schießen. Abdi duckte sich an die Wand.
»Besser, wir verschwinden, bevor es schlimmer wird«, sagte Samatar. »Komm. Wir kennen da ein
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