Die Somalia-Doktrin (German Edition)
übereinander hinweg.
Ohne seinen Sohn loszulassen, warf Abdi sich nach vorne. Samatars Stimme klang ihm im Ohr: Bleib bloß nicht stehen. Die Menge zerstreute sich. Abdi und Khalid rannten weiter. Abdi ignorierte den stechenden Schmerz in seinem kaputten Bein. Sie sprangen hinter einen Trümmerhaufen, Samatar und seine Familie kamen gleich hinterdrein.
Abdi spürte seinen Puls im Kopf rasen. Aber zum Ausruhen war jetzt keine Zeit. Man startete die Technicals; das Brummen ihrer Motoren erfüllte die Luft.
Sie mussten fliehen. Und zwar rasch.
Kapitel 31
Nairobi, Kenia
23. September 2003
Mit einem scharfen Knall schlug die Zellentür hinter ihm zu. Jim blinzelte, um sich an das Zwielicht zu gewöhnen. Wenigstens ein Dutzend Augenpaare richteten sich auf ihn und seine blutbefleckte Kleidung. Jim ließ sich in eine Ecke sinken und musterte seine Mitgefangenen. Einen verzweifelten Ausdruck auf den eingefallenen Gesichtern, saßen sie auf dem Betonboden, halbnackt und schweißüberströmt. Einige wenige hockten auf einer halb verfaulten Matratze an der Wand. In einer Ecke stand ein Eimer, der bis an den Rand mit Urin und Kot gefüllt war.
Jim legte den Kopf in die Hände. Die Polizei behauptete, seine Fingerabdrücke auf dem Messer gefunden zu haben. Er hatte mit den Leuten zu reden versucht, aber es war sinnlos. Sie hatten die ausdruckslosen Gesichter aufgesetzt, die er von so vielen Bürokratien her kannte. Man hatte ihm nicht einen Anruf erlaubt. Keiner wusste, dass er hier war, außer vielleicht Maxine, wo immer sie war.
Neben ihm kam es zu einer Rangelei zwischen einem schlanken, grauhaarigen Mann mit gebrochener Nase und einem allem Anschein nach jüngeren Mann mit Ziegenbärtchen und nur einem Arm. Es schien um ein Stück Brot zu gehen. Der Hochgewachsene hatte den Jüngeren im Schwitzkasten. Er drückte derart zu, dass dem Jüngeren schier die Augen aus dem Kopf quollen. Der Rest der Männer sah ihnen ungerührt zu.
Drei Wärter stürmten herein und trennten die beiden. Sie zogen ihnen die Stöcke über den Kopf. Dann kamen sie auf die Idee, auch auf alle anderen einzuschlagen. Jim schützte sich, indem er die Arme hochnahm, aber ihn ließen die Wärter aus. Auf dem Weg nach draußen hob einer die Brotkante auf und warf sie in den Eimer. Die Gefangenen verfielen in brütendes Schweigen. Jim drängte sich tiefer in die Ecke. Der emotionale Stress forderte seinen Tribut; den Kopf gegen die Wand gelehnt nickte er ein.
Er fuhr aus dem Schlaf. Instinktiv warf er einen Blick auf sein Handgelenk, bevor ihm einfiel, dass die Wärter ihm Armbanduhr und Geldkatze abgenommen hatten. Da die Zelle fensterlos war, hätte man nicht sagen können, wie spät es war. Die meisten der anderen Häftlinge rund um ihn schienen zu schlafen, also schätzte er, es war Nacht. Er rieb sich die Schläfen. Er hatte sich solche Mühe gegeben, rechtzeitig für das UA-Meeting nach Nairobi zu kommen, und jetzt war er hier eingesperrt – in einem der übelsten Gefängnisse der Dritten Welt.
In der Ecke gegenüber bewegte sich etwas. Er kniff die Augen zusammen und schrak dann zurück. Zwei Männer trieben es miteinander; einer von ihnen lag im Dreck, der andere drang von hinten in ihn ein. Jim senkte den Kopf, schloss die Augen und legte sich die Hände über die Ohren. Zum ersten Mal seit Jahren betete er. So mancher, hatte er gehört, habe im Gefängnis ein starkes religiöses Erlebnis gehabt.
Er fühlte nichts. Nur Leere. Er zuckte die Achseln.
Wann immer er die Augen schloss, tauchte Harrys grinsendes Gesicht vor ihm auf: die krummen Zähne, der selbstzufriedene Zug um den Mund. Harrys Augen waren denen des Mannes, der für den Tod seiner Frau Carrie verantwortlich war, so ähnlich. Wenn nur seine Züge nicht so anders gewesen wären. Gehörten sie derselben Person? Waren es Brüder? Oder gab es gar keine Verbindung zwischen den beiden? Niemand schien so recht etwas über Harrys Vergangenheit zu wissen. War er nun bei der CIA gewesen? Oder war er ein ehemaliger Söldner? Oder beides? Oder nichts davon?
Jim schlief wieder ein. Er träumte von Afghanistan: die eingebetteten Journalisten hatten sich mit den amerikanischen Einheiten durch die öden Berge geschleppt; es war zu haarsträubenden Scharmützeln mit den Taliban gekommen. Er träumte von Carries Lachen, wenn sie sich bis in die Nacht hinein im Hotel unterhielten: ihr melodiöser kalifornischer Akzent, die Art, wie sie verteidigte, was immer ihr gerade am Herzen lag. Dann sah
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