Die Somalia-Doktrin (German Edition)
zunichte gemacht.
Der Vater kletterte von der Ladefläche. Er fand sein Gleichgewicht und sah sich Abdi einen Augenblick an. Überzeugt, dass Abdi keine Gefahr darstellte, fragte er: »Woher sind Sie?«
»Wir haben ihn bezahlt, aber er fuhr ohne uns los. Er musste bestraft werden.«
»Wo wollen Sie denn hin?«
»Brava.«
»Wir auch. Können Sie fahren.«
Abdi nickte.
»Fahren Sie uns nach Brava«, sagte der Vater. »Sagen Sie Ihren Freunden, sie sollen hinten einsteigen.«
Abdi kletterte auf den Fahrersitz, der aus kaum mehr als einigen zerrissenen Lederstreifen über einem modrigen Polster bestand. Er betätigte die Zündung und den Schalthebel. Der Lkw rührte sich nicht. Wahrscheinlich war der Tank leer. Er beugte sich aus dem Fenster. Der Vater hatte bereits verstanden und leerte einen Kanister in den Tank.
Einige Minuten später waren sie unterwegs. Abdi war begeistert, aber nicht dumm genug, sich allzu große Hoffnungen zu machen. Zu viele Leichen säumten die Straße, meistens Männer, die man wahrscheinlich nur umgebracht hatte, weil sie vom falschen Clan waren. Scharenweise schleppten sich die Flüchtlinge mit ihren kargen Habseligkeiten am Rande der Straße dahin.
Am späten Nachmittag erreichten sie Brava. Es sah mit seinen zerstörten Häusern nicht weniger schlimm aus als Mogadishu. Auch hier lagen Leichen auf den Straßen und der Gestank der Fäulnis hing in der Luft. Frauen liefen im
weer
die Straße lang, einem weißen Stirnband, das bedeutete, dass man in Trauer war. Abdi brachte den Laster zum Stehen.
Samatars Frau Haweeya rief eine der Frauen an.
»Was ist denn hier los?«
Die Frau kniff die Augen in ihrem faltigen Gesicht gegen die Sonne zusammen und schlurfte heran.
»Wir haben genug«, sagte sie. »Wir haben unseren Männern gesagt, sie sollen zu kämpfen aufhören, oder wir entblößen unseren Kopf.« Dass eine Frau sich ohne Kopfbedeckung sehen lässt, gilt als Schande.
»Und?«
»Sie haben aufgehört. Sie haben sich zu sehr geschämt.«
Abdi lächelte. Das bedeutete, dass die Straßen sicherer wären. Er parkte den Lkw neben einer halb demolierten Wand. Die fünfköpfige Familie stieg aus und ging, ohne sich zu verabschieden oder zu bedanken, mit Sach und Pack die Hauptstraße hinauf.
Abdi wandte sich an Samatar. »Wir sollten weiter.«
»Wohin?«
»Dadaab.«
»Zu weit«, sagte Samatar.
»Oder Mombasa. Ich habe gehört, dass man die Reise in Fischerbooten machen kann.«
»Zu gefährlich«, sagte Samatar.
»Gefährlicher als hier zu bleiben?«
»Mein Bruder und seine Frau haben es versucht. Wir haben nie wieder von ihnen gehört.«
»Vielleicht haben sie es geschafft«, sagte Abdi.
»Das war vor zehn Jahren. Da hätten wir Nachricht erhalten, hätten sie überlebt.«
»Die Waffenruhe wird nicht ewig dauern.«
»Wir haben hier Familie. Wir werden hier sicherer sein. Ihr könnt jederzeit bleiben.« Samatar wandte sich ab, um Frau und Tochter vom Laster zu helfen.
Abdi schüttelte den Kopf. »Danke, aber die Milizen suchen uns. Wir müssen das Land verlassen.«
»Warum suchen die euch denn?«
»Weil wir gesehen haben, was sie beim Überfall auf das Lager gemacht haben.«
»Aber warum haben die euch dann leben lassen? Warum haben die euch nicht auch umgebracht?«
Abdi zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.«
Er nahm seinen Sohn bei der gebrechlichen Hand. Außer Samatar kannten sie hier niemanden. Sie hatten keinen Besitz. Sie hatten nichts. Er blickte auf die Wand neben sich, die mit Einschusslöchern und dunklen Flecken getrockneten Bluts übersät war. Dadaab oder Mombasa wären wenigstens etwas sicherer, wenn sie nur hinkämen.
Sie verabschiedeten sich von Samatar und seiner Familie und fuhren zum Hafen mit seinen zerschossenen Gebäuden und dem bröckelnden Kai. Nach Dadaab kämen sie nur auf dem Landweg, der langsam und gefährlich war bei all den Banditen und Milizen auf der Straße. Nach Mombasa könnten sie ein Schiff nehmen, was schneller ging, aber immer noch gefährlich war bei all den Piraten. Außerdem könnte das Schiff kentern und sie ertrinken. Er blickte auf seinen Sohn hinab, der still mit einigen Kieseln spielte. Abdis Ziel war, den Milizen zu entkommen, und zwar schnell. Er entschied sich für den Seeweg.
Abdi sprach mit einem zahnlosen Fischer namens Waabberi, der ein kleines, muschelverkrustetes Schiff hatte, das bereits mit fast hundert Leuten vollgepackt war. Die beiden feilschten eine ganze Weile, aber Waabberi wollte davon nichts
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