Die Sommerfrauen: Roman (German Edition)
irgendwann vergessen.«
»Tat er aber nicht, oder?«, sagte Julia.
»Sobald im Mai die Schule aus war, flog Stephen nach Omaha, zu seinem Vater. Während Stephen dort war, hatte sein Vater einen Schlaganfall. Er überlebte, hängt aber jetzt an einem Beatmungsgerät, und sie haben der Familie gesagt, es sei nur noch eine Frage der Zeit.«
»Gottogott. Das auch noch«, murmelte Julia. »Und, wie ging es weiter?«
»Als Stephen nach Hause kam, wollte er nicht über seinen Vater sprechen«, antwortete Dorie. »Er begann zu trinken, also, nicht richtig viel, aber mehr als sonst. Auch Whiskey. Davor hatte er nie harte Sachen getrunken. Wir beide nicht. Und dann, eines Abends, direkt vor dem vierten Juli, da … da …« Sie konnte nicht weitersprechen und begann wieder zu weinen. Julia riss ein Blatt von der Papierrolle und reichte es Dorie.
»Schneuzen!«, befahl sie. Dorie nickte und tat, wie ihr geheißen. Ellis nahm ebenfalls ein Blatt und betupfte ihre Augen. »Ich darf nicht vergessen, Taschentücher auf den Einkaufszettel zu schreiben«, sagte sie geistesabwesend.
Dorie holte nochmals tief Luft und erzählte weiter. »Er fuhr einfach mit dem Auto los und kam nicht zurück. Die ganze Nacht nicht. Ich bin fast durchgedreht! Er ging nicht ans Handy, und ich rief alle Leute an, die er kannte, und fragte, ob sie ihn gesehen hätten. Ich hab sogar in den Ambulanzen der Krankenhäuser angerufen, um zu erfahren, ob er einen Unfall gehabt hatte.«
»Du musst solche Angst gehabt haben«, sagte Ellis. »Ich weiß gar nicht, was ich an deiner Stelle getan hätte.«
»Ich wäre so was von stinksauer gewesen«, bemerkte Julia.
»Ich hatte Riesenangst, und als er dann schließlich doch nach Hause kam, ohne dass was passiert war, da war ich auch stinksauer. Wir hatten einen Riesenkrach. Ich stand in der Küche, im Nachthemd, und glaubt mir, ich hab mir die Seele aus dem Leib geschrien. Wirklich, ich hab ihn so was von angekreischt. Und Stephen brach einfach weinend zusammen. Er erzählte mir alles. Dass er in eine Kneipe gegangen war, wo er Matt traf und etwas mit ihm trank. Dann wäre er einfach … mit Matt nach Hause gegangen. Er hatte mich nicht angerufen, weil er mich nicht anlügen wollte.«
Dorie holte wieder tief Luft. Ihre Augen waren rot vom Weinen, ihre Nase lief. Ellis und Julia weinten ebenfalls.
»Und das war’s dann?«, fragte Ellis. »Er ist schwul, und ihr lasst euch scheiden? Ende der Geschichte?«
»Ende der Geschichte«, bestätigte Dorie. »Das Ende von Mr und Mrs Perfekt. Das Ende der ganzen Scheiße.«
»Und das willst du auch so? Hast du überlegt, ob ihr euch vielleicht mal Hilfe sucht?«, fragte Ellis.
»Hilfe suchen?«, höhnte Julia. »Sie hat gerade erzählt, dass ihr Mann schwul ist. Was hilft denn eine Eheberatung, wenn es um so was geht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Ellis hilflos. »Vielleicht ist Stephen ja gar nicht hundertprozentig schwul. War ja nur ein Mal, oder? Vielleicht ist das nur … nur so eine Phase. Dorie hat doch gesagt, er hätte großen Stress gehabt, er musste seine Doktorarbeit schreiben, und sein Vater war so krank. Wenn sie sich beraten lassen würden, wenn sie über alles mit einem Therapeuten reden könnten, vielleicht … ich denke nur, dass es doch noch eine andere Möglichkeit geben muss.«
»Ach, das ist doch einfach nur dämlich.« Julia schüttelte den Kopf. »Meinst du, das läuft wie in den Leserbriefen aus den Frauenzeitschriften deiner Mutter: ›Hat diese Ehe noch eine Chance?‹«
»Ich sage es nicht gerne, aber Julia hat recht«, meinte Dorie. »Verstehst du das nicht? Ich sitze in der Patsche. Stephen behauptet, er würde mich lieben, und das glaube ich ihm auch, wirklich. Aber er ist nicht in mich verliebt. Es gibt jemand anderen. Wie soll ich dagegen ankommen? Wenn es eine andere Frau wäre, würde ich was unternehmen. Eine neue Frisur, neue Haarfarbe, abnehmen, die Brüste operieren lassen …«
»Die Brust operieren?«, rief Julia und schlug auf den Tisch. »Dorie, du hast 70D, verdammt nochmal! Du trägst schon D-Körbchen, keine Ahnung, seit du im Kindergarten bist.« Das war nur leicht übertrieben. »Du hast so eine schlanke Figur, du könntest gar nicht mehr aufrecht stehen, wenn du noch größere Möpse hättest.«
»Ich weiß noch«, fiel Ellis ein, »als wir in der siebten Klasse Sport-BHs bekamen, hattest du schon welche mit Drahtbügel.«
»Doppel-D-Dunaway«, sang Julia. »Nee, soweit ich sehe, gibt’s nur eine
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