Die Sommerfrauen: Roman (German Edition)
mit den Fingern durch. »Das sind mindestens sechzig Punkte, die mir abgezogen werden.«
»Ich hab vierzig«, verkündete Julia und legte ihre Karten hin. »Womit wir wo wären, Ellis?«
»Hmm. Ich hab 485. Julia, du stehst bei 410, und Dorie bei 220.«
»Bei mir ist es hoffnungslos«, sagte Dorie und knabberte ein Popcorn. »Außerdem bin ich müde. Wie spät ist es, fast zwölf? Ich glaube, ich schleppe mich gleich ins Bett.«
»Ach, nein!«, protestierte Ellis. »Ist doch noch früh. Und du kannst immer noch gewinnen. Los, Dorie, bleib hier! Wo wir gerade so viel Spaß haben. Hey, wer hat Lust auf ein Eis? Ich habe Schokoeis im Gefrierfach.«
»Schokoeis?« Dorie hob eine Augenbraue. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Im Kartenspielen bin ich vielleicht schlecht, aber bei Süßigkeiten erste Klasse!«
»Du warst nicht immer schlecht im Kartenspielen«, stellte Julia fest. »Früher hast du uns oft mit links besiegt. Ich hab noch nie einen gesehen, der sich Karten so gut merken konnte wie du, Dorie.«
Dorie schob sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich bin mit den Gedanken nicht richtig dabei«, sagte sie leichthin. »Ich habe gerade meine blonde Phase. Meine rotblonde Phase.«
»Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«, fragte Julia. Ellis sah sie warnend an, doch Julia wandte den Blick nicht von Dorie ab.
»Ach, das Übliche«, sagte Dorie. »Geld. Arbeit. Wie immer. Nicht so wichtig. Mir geht’s besser, sobald Ellis dieses Schokoeis rausrückt, mit dem sie mich gerade gelockt hat.«
»Dorie?« Julia rutschte mit ihrem Stuhl herüber, so dass sie direkt neben ihrer Freundin saß. »Komm mal her, Liebelein. Wir wissen, dass dich irgendwas plagt.«
»Julia!«, mahnte Ellis. »Du hast mir was versprochen!«
Julia zuckte mit den Schultern. »Das war gelogen. Los, komm, Dorie. Raus damit!«
Dorie wurde blass. Sie schob die Karten auf dem Tisch zu einem Haufen zusammen und machte sich daran, sie wieder zu einem Stapel zu ordnen. »Bin ich so durchschaubar?«, fragte sie und blickte von Julia zu Ellis.
»Du hast einfach kein Pokerface«, bemerkte Ellis und setzte sich auf die andere Seite von Dorie. »Aber du musst nicht drüber sprechen, wenn du nicht willst.«
»Es ist wegen Stephen, nicht?«, schlug Julia vor, Ellis’ bösen Blick ignorierend.
»O Gott«, flüsterte Dorie. »Ja. Stephen …« Eine Träne rollte ihr über die Wange. Sie biss sich auf die Lippe. »Stephen und ich … Mein Gott. Ich fasse es nicht. Ich kann mich nicht mal überwinden, es auszusprechen.«
Julia schenkte den restlichen Pinot Grigio in ein Glas und schob es vor Dorie. »Hier, trink das!«
»Nein.« Vorsichtig schob Dorie das Glas von sich. »Ich schaffe das. Ich kann das. Ich muss. Ab heute.« Sie holte tief Luft, und plötzlich sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus:
»Ich habe euch alle angelogen. Ja. Und das tut mir leid. In Wahrheit ist Stephen schon seit Wochen mit seiner Doktorarbeit fertig. Er ist nicht mit ans Meer gefahren, weil … weil wir uns scheiden lassen. Vor zwei Wochen ist er ausgezogen. Und jetzt muss ich das Haus verkaufen. Das konnte ich euch nicht sagen. Ich habe es noch niemandem erzählt. Schon gar nicht Willa. O Gott, was Willa wohl dazu sagt? Und meine Mutter? Das wird sie völlig fertigmachen. Wie soll ich ihr das nur beichten? Und was mache ich in der Schule? Einer von uns beiden muss gehen. Wir können nicht beide an der ›Our Lady of Angels‹ arbeiten. Nicht mehr. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich kann nicht klar denken. Nicht mal die einfachsten Sachen. Ich kann mich nicht mal entscheiden, welche Cornflakes ich zum Frühstück essen will oder was ich morgens anziehen soll. Es ist, als wäre mein Gehirn ausgeschaltet. Ich hätte nicht mit in den Urlaub kommen sollen. Ich hätte zu Hause bleiben und mir über mein Leben klarwerden sollen, aber ich wollte so gerne mit euch zusammen sein. Ich wollte einfach nur ins Auto steigen und weg. Einfach immer weiterfahren. Ich konnte nur eins denken, nämlich dass ich ans Meer fahre. Und ich habe nicht vor, an zu Hause zu denken. Wenn ich am Meer bin, ist das alles egal. Deshalb bin ich gekommen.«
Der Schwall von Worten war so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte. Dorie ließ die Schultern hängen. Erfolglos wischte sie die Tränen fort, die ihr über die Wangen liefen. »Ach, Mensch, so ein Mist.«
»O Dorie«, sagte Ellis und nahm die Freundin in die Arme. »Das tut mir so leid.« Sie weinte ebenfalls. »Ach, meine
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