Die Sonate des Einhorns
nicht vielen. Ich würde an deiner Stelle noch etwas bleiben, wo du bist, und leise sprechen. Sie können warten, die Perytone.«
Joey gehorchte ihm, wobei sie es sich Stück für Stück etwas bequemer machte und die Ellbogen unter sich schob. Sie fragte den Satyr: »Du hast gesagt: in eurer Welt. Wenn ich… wenn ich gar nicht in meiner eigenen Welt bin … okay, wo bin ich denn dann?« Sie hielt den Atem an, war sich überhaupt nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte.
Ko sagte: »Du bist in Shei’rah.« Für Joey fühlte sich das Wort bei diesem ersten Mal wie eine sanfte Brise auf ihrer Wange an. Sie hob augenblicklich ihre eine Hand, berührte ihr Gesicht und fragte: »Ich bin wo?«
»Du bist in Shei’rah«, wiederholte der Satyr. »Und damit du’s gleich weißt: Du bist nicht die erste Außerweltliche, die den Weg hierher gefunden hat. Aber du bist die erste seit sehr langer Zeit, und ich bin hocherfreut, dich kennenzulernen. Ich hab’ sie immer gemocht, die Außerweltlichen.«
Das Schnattern der Perytone wurde leiser und leiser. Joey mußte sich nun anstrengen, um es noch zu hören. Sie setzte sich auf und versuchte, sich den Dreck aus Haar und Augen zu wischen. Vorsichtig sagte sie: »Ich bin Josephine Angelina Rivera. Man nennt mich Joey. Ich wohne in der Alomar Street in einem Ort namens Woodmont, aber eigentlich ist es gar kein richtiger Ort, eher ein unaufgeräumter Supermarkt westlich von Los Angeles. Meine Mutter macht in Immobilien, und mein Vater irgendwas mit Computern, mit Elektronik. Ich habe einen total doofen Bruder, und eine Großmutter, die in einem dieser Heime für alte Leute wohnt, was mir überhaupt nicht gefällt. Ich gehe auf die Ridgecrest Junior High School. Übermorgen muß ich zum Zahnarzt. Was mache ich bloß an einem Ort wie Shei’rah?« Ihr Blick wanderte von dem fragenden Gesicht des Satyrs hinauf in die blauen Bäume, dann zu Boden, wo eine purpurrote Schnecke von der Größe eines Softballs sie anstarrte. »Ich glaube, ich sollte eigentlich in meinem Bett sein«, fügte sie leise hinzu.
Wieder begann die Musik, obwohl Joey nicht hätte sagen können, wann. Satyrn spielten auf lustigen kleinen Pfeifen, fiel ihr ein, aus Bambus oder so etwas ähnlichem, aber Ko schien mit seinen Händen vor allem damit beschäftigt zu sein, sich zu kratzen, und außerdem kam die Musik diesmal aus weiter Ferne. Ko streckte sich – er roch tatsächlich ziemlich eigentümlich, keine Frage –, kratzte sich genießerisch den Hintern, bis sein flotter Büschelschwanz wie ein Propeller kreiselte und sagte schließlich: »Nun, ich glaube, jetzt sind wir soweit in Sicherheit. Wollen wir gehen, Tochter?«
Aus dem Mund einer solchen Kreatur klang das Wort »Tochter« derartig absurd, daß Joey unwillkürlich kichern mußte. Sie fragte: »Gehen? Wohin gehen?«
Ko hob seine buschigen, schrägstehenden Augenbrauen. »Na, dem Allerältesten einen Besuch abstatten, was sonst? Der Älteste wird einen Rat wissen.«
»Der Älteste?« Joey kam auf die Beine. »Ich kann nirgendwohin … ich muß morgen zur Schule, ich habe einen Test, verdammt. Und meine Eltern, wenn die aufwachen und ich bin einfach so weg… hör zu, ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin, aber es muß doch auch einen Weg zurück geben. Zeig mir einfach, aus welcher Richtung ich gekommen bin, und ich finde mich schon zurecht. Ich muß wirklich nach Hause, tut mir leid.«
Der Satyr lächelte nun sanft und mitfühlend. »Tochter, du kannst die Grenze jetzt nicht überqueren. Der Mond ist schon nicht mehr zu sehen.«
»Grenze?« fragte Joey. »Welche Grenze? Was hat der Mond damit zu tun? Was redest du da überhaupt?«
Doch Ko verschwand bereits im Wald. Joey hastete hinter ihm her, verzweifelt darauf bedacht, nicht zurückzubleiben. »Ich muß nach Hause! « rief sie, als sie ihn einholte. »Ich muß zur Schulel Wie weit ist es bis zum Ältesten, wer auch immer das sein mag?«
Ko wandte sich um und nahm ihre Hand, tätschelte sie mit Fingern, die sich so dick und kratzig anfühlten wie die Pfote eines Hundes. »Wir können uns im Gehen unterhalten«, sagte er. »Alles wird gut werden, Tochter. Dessen bin ich mir so gut wie sicher. Fast alles wird gut hier in Shei’rah.«
∗ Drittes Kapitel ∗
Die Reise dauerte den ganzen Tag. Ko mied das Weideland – »so nah an der Grenze fordert man die Perytone auf freiem Feld wahrlich auf, einen zu verspeisen« – und blieb die ganze Zeit in Deckung, so beschwerlich der Weg
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