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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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    werden mochte. Er führte Joey durch einen Wald, durch dorniges Dickicht und danach wieder in dichten, dunklen Wald, das Unterholz nur gelegentlich von sonnengesprenkelten Lichtungen durchbrochen, wo Vögel, die so unglaublich grell leuchteten, als hätte ihr kleiner Bruder sie gemalt, sangen wie Wind über Wasser und Wasser über Stein. Ein Pärchen kleiner schwarzgoldener Vögel folgte ihnen eine Weile, steuerte im Sturzflug auf Kos Kopf zu und kreiste um ihn herum, zwitscherte ihm ständig in die behaarten Ohren. Er gab ihnen eigentlich keine Antwort, was Joey ein wenig beruhigte, aber er hörte ihnen offensichtlich zu.
    Gelegentlich war sich Joey ganz sicher, daß man ihre Reise aufmerksam beobachtete. Anfangs blieb sie unvermittelt stehen und riß den Kopf herum, doch war nie etwas zu sehen, und das weckte in ihr Erinnerungen, wie Abuelita sie damit aufgezogen hatte, sie solle doch versuchen, in ihr eigenes Ohr hineinzusehen. An Abuelita zu denken machte sie traurig, so daß sie aufhörte, sich ständig umzudrehen. Doch auch weiterhin fühlte sie sich beobachtet, erforscht, eingehend betrachtet, vielleicht auch von den blauen Bäumen, vielleicht vom Wind.
    Ein heller Bach schlängelte sich durch eine der Lichtungen, und Joey sank an seinem Rand auf die Knie, rief Ko zu, er solle auf sie warten. Das Wasser war kalt und süß. Sein Geschmack breitete sich in ihr aus und ließ sie erschauern. Als sie sich vorbeugte, um noch einmal zu trinken, sah sie ihr Gesicht, dunkel und knochig und durchschnittlich und streckte ihm die Zunge heraus, wie sie es immer tat. Doch diesmal, diesmal tauchte ein anderes Gesicht hinter ihr auf, darunter, durch ihr eigenes hindurch, ließ ihr Bild zu einem Blubbern von Blasen zerspringen, streckte ihr seine grüne, spitze Zunge entgegen und lachte mit zutiefst schamloser Freude – wie die nie verstummende Musik höchstselbst. Joey kreischte, sprang auf und stürzte voller Panik dem Satyr hinterher, den sie beinah zu Boden geworfen hätte, als sie mit ihm zusammenstieß. Er stützte sie mit groben, erschreckend kräftigen Händen und sagte: »Beruhige dich, Tochter, der alte Ko ist doch bei dir. Was hat dich denn so erschreckt?«
    Joey erzählte es ihm und ärgerte sich, als er vor Lachen laut herausplatzte, sich vorbeugte, um in die Hände zu klatschen und sich auf seine Ziegenschenkel zu schlagen. »Kind«, keuchte er, als er wieder sprechen konnte, »Tochter, du hast nur eine BachJalla gesehen, sonst nichts. Harmlos wie Elritzen sind sie, und auch ebenso verbreitet, schenk ihnen einfach keine Beachtung. Sie haben einen ziemlich vulgären Humor.« Plötzlich wieder nüchtern fügte er hinzu: »Die im Fluß, die sind ein anderes Kaliber. Eine ausgewachsene Fluß-Jalla hätte dich in die Tiefe gerissen und inzwischen schon deine Knochen abgenagt.
    Geh niemals zu nah an ein Flußufer, niemals, es sei denn, du bist mit mir zusammen oder dem Ältesten. Hast du mich verstanden, Tochter?«
    »Ja«, flüsterte Joey, und dann: »Wieso nennst du mich eigentlich dauernd Tochter? Also wenn ich mir im Moment noch über eines sicher bin, dann darüber, daß ich nicht deine Tochter bin.« Aus Furcht, der Satyr könnte gekränkt sein, fügte sie rasch hinzu: »Ich meine, das ist schon in Ordnung, aber ich bin es nun mal nicht.«
    Ko lächelte, wobei seine gelben Augen für einen Moment ein goldenes Glitzern mit winzigen Finsternissen annahmen. »Wenn du wie ich einhundertsiebenundachtzig Jahre alt bist«, erwiderte er, »darfst du jeden nennen, wie dir beliebt. Ich nenne dich meine Tochter, weil es mir Freude bereitet, aus keinem anderen Grund. Komm, es ist noch ein langer Weg zum Ältesten. Bleib an meiner Seite.«
    Joey blieb in seiner Nähe, als sie weiterwanderten. Für eine Weile ging es zurück in den Schutz der blauen Bäume, und dann hinaus in vergleichsweise offenes Land, das Haine mit weit kleineren, zarter wirkenden Bäumen prägten, die wie Verzierungen aus farbigem Glas auf flachen, blütenüberzogenen Hügeln standen. Joey kannte keine dieser Blumen, doch ihr Duft war derart mild und schmerzlich vertraut, daß sie erneut an Abuelita denken mußte. Abuelita, die zu laut redete, weil sie taub wurde, und die absichtlich mehr und mehr Spanisch sprach, je weniger Joeys Eltern die Sprache benutzten. Abuelita, die Musik über alles liebte, besonders die ihrer Enkelin, und die besser roch als irgend jemand sonst auf der Welt.
    Sie blieb stehen, dachte: Ein ganzes Land, das wie Abuelita

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