Die Sonate des Einhorns
sich umwandte, Badeseife roch und merkte, daß Indigo neben ihr ging. Er sagte: »Dein vertrottelter Freund will irgendwas besorgen. Er kommt gleich wieder.«
Trotz dieser Worte lag nichts von der üblichen Unverfrorenheit in seiner Stimme. Joey blieb stehen. Sie sagte: »Ihr Einhörner sterbt.«
»Wir sind nicht unsterblich«, antwortete Indigo, »nur sehr, sehr alt. Ebensowenig machen wir uns alle mit dem Lord Sinti auf den Weg, um die kalten Monate in tiefer Meditation zu verbringen. Wenn der Frühling kommt, kehrt der eine oder andere vielleicht nicht mehr zurück… dann sagen die Ältesten, er hätte uns einfach verlassen, sich in die ›Große Einsamkeit‹ zurückgezogen, wie wir es alle früher oder später einmal tun. Das ist ihre erste Lüge. Die andere kennst du.«
»Warum?« flüsterte Joey. »Warum können sie es den Jungen nicht offen sagen? Jeder ist sterblich.«
»Alte Lügen werden nach langer Zeit zur Wahrheit. Es ist eine sehr alte Lüge, älter noch als der Lord Sinti selbst. Wenn man alt genug wird, stimmt man in die Lüge mit ein. Ist es auf eurer Seite der Grenze denn soviel anders?« Joey antwortete nicht. Indigo sagte: »Wie es anfing, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich daran nicht teilhaben will.«
»Aha«, sagte Joey. »Deswegen kommst du rüber und lebst auf meiner Seite der Grenze ein ehrliches Leben. Dumm.«
»Du hast eine Älteste getroffen, die genauso denkt wie ich.« Zum ersten Mal klang Indigo defensiv. »Es gibt noch viel mehr von ihnen.«
»Na, wenn sie alle so leben wie die, würde ich sagen: Du hast ein Problem.« Joeys Stimme hörte sich selbst in ihren eigenen Ohren verächtlicher an, als Indigos je geklungen hatte, und sie unternahm einen hoffnungslosen Versuch, es abzumildern. »Ich finde einfach, es ist so dumm, und ich wünschte, du würdest es nicht tun, das ist alles.«
»Es ist unklug«, sagte Indigo leise. »Natürlich ist es unklug, und es wird nie mehr als ein paar von uns geben, die diese Wahl treffen. Aber es ist unsere Entscheidung, die erste, die wir jemals treffen. Versuch nicht, dir vorzustellen, was eine unkluge Entscheidung für ein Einhorn bedeutet. Das kannst du nicht, Außerweltliche.«
Spontan berührte Joey sein Gesicht mit ihren Händen, wie Abuelita es bei ihr getan hatte. Sie sagte: »Indigo, diese Frau unter der Autobahn hatte ihr Horn noch. Ich wette, bei den anderen ist es genauso. Ich wette, es gibt keinen Ältesten, der je sein Horn verkauft hat.« Abrupt wich Indigo zurück, warf den Kopf hin und her. Joey sagte: »Du willst deines verkaufen, damit du mit dem Geld besser leben kannst als sie. Aber die anderen werden es schaffen, sie werden leben, und du wirst sterben. In dieser Hinsicht hat der Lord Sinti die Wahrheit gesagt. Du mußt sterben, Indigo.«
Sie konnte die Antwort des weißen Einhorns kaum hören: »Aber ich werde leben! Ich werde leben!«
Dann war er verschwunden, und einen Augenblick später kam Touriq zurück, hielt einen Klumpen saftig wirkender Knollen zwischen den Zähnen. »Die sind für dich … wir nennen sie Mormarek. Die sind schon nicht mehr ganz so gut, aber wenn du sie ißt, kannst du an mich denken… und an meine Mutter und Ko und Shei’rah.« Als Joey zum Abschied seinen Hals umarmte, flüsterte das Einhornfohlen: »Komm bald wieder. Du wirst mir fehlen.« Außer Abuelita hatte das noch nie jemand zu Joey gesagt, und mit Tränen auf den Wangen überquerte sie die Grenze. Es sollte nicht das letzte Mal sein.
∗ Achtes Kapitel ∗
Die Schule neigte sich dem Ende zu. Joeys Bruder Scott fuhr ins Fußballcamp, und die Eltern unternahmen mit Mrs. Riveras Familie ihre jährliche, zweiwöchige Reise in die Gegend von San Francisco. Joey durfte – nach einigem Flehen und gemeinsamen
Bemühungen –bei BeeBee Huang bleiben, doch sie verbrachte jede freie Minute in Papas’ Musikladen, wo sie lernte, die Musik Shei’rahs für das Klavier zu transkribieren. Mit ihrer fieberhaften Ungeduld machte sie sich die Aufgabe schwerer als nötig: Die Notenschrift verstand sie schnell, doch bei dem Versuch, die blauen Bäume und winzigen Drachen aus Shei’rah in schwarze Schnörkel auf einem fleckigen Blatt Notenpapier zu verwandeln, bekam sie Wutanfälle. »Wieso können Sie das nicht machen?« jammerte sie John Papas immer wieder vor. »Ich spiele, Sie müssen es nur aufnehmen und kopieren, wenn Sie zehn Minuten Zeit haben. Wieso muß ich immer alles aufschreiben?«
»Weil du die Musik hörst«, antwortete John
Weitere Kostenlose Bücher