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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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ihrer eigenen Überraschung, wie sehr sie an jenen Tagen, an denen sie über die Grenze gehen wollte, an ihnen hing.
    Sie bereitete alles vor – inzwischen wußte sie genau, was sie für einen Besuch in Shei’rah in ihren Rucksack stopfen mußte – und dachte sogar daran, ein Bilderbuch mitzunehmen, das sie der Bach-Jalla zeigen wollte, die sich so etwas nicht vorstellen konnte. Als sie damit fertig war, machte sie sich auf den Weg nach Silver Pines, wo Abuelita schon unten im Foyer auf der kleinen Bank wartete.
    »Dein Haar sieht komisch aus«, sagte Joey. »Was ist das Weiße da drin? Dein Haar ist doch nicht weiß.«
    Abuelita lachte und schlug sich an die Wangen, bis ihre braune Haut fast rosa wurde. »Ich habe einfach aufgehört, es zu färben, Fina. Ich färbe mein Haar seit, oh, Jahre, Jahre. Weil es Ricardo so gefiel, ganz schwarz. Jetzt macht es mir zuviel Mühe. Ricardo wird mich eben nehmen müssen, wie ich bin.« Sie umarmte Joey, dann hielt sie sie auf Armeslänge entfernt, noch immer lachend. »Und du hast es wirklich nie gewußt? Ich liebe dich, Fina.«
    Sie hatten gerade ihren ersten Rundgang im kleinen Park absolviert, als Abuelita mit ihrer freien Hand ein goldenes, mit Elfenbein verziertes Armband vom rechten Handgelenk nahm und es flink am Arm ihrer Enkelin befestigte, bevor Joey merkte, was geschah. »Schieb es etwas höher, Kind. Dein Arm ist zu dünn.«
    Abrupt blieb Joey stehen. »Das kannst du nicht tun«, platzte sie heraus, vor Schreck auf englisch. »Nimm es zurück, Abuelita, es ist zu wertvoll. So was kannst du doch keinem Kind geben.« Sie hantierte an dem zierlichen alten Verschluß herum, versuchte, das Armband wieder abzunehmen.
    Abuelita legte eine Hand auf ihre. »Fina, es war schon immer deins, seit deiner Geburt. Ich möchte hier sehen, daß du es trägst, nicht erst, wenn ich vom Himmel hinunterblicke. Der ist zu weit weg, dieser Himmel, und meine Augen sind nicht mehr so gut.« Als sich Joeys Augen prompt mit Tränen füllten, schimpfte die alte Frau mit ihr. »Jetzt fang nicht an wie dein Bruder. Es ist nur ein Armband, es ist nur eine Großmutter, es ist nur das Leben. Nicht besser, nicht schlechter, wie ich es dir gesagt habe… nur das Leben, und das ist gut genug für jeden.«
    »Aber ich habe nichts, was ich dir geben könnte«, schluchzte Joey.
    Abuelita warf ihr einen ihrer leicht spöttischen Blicke zu. »Selbst von einem kleinen Mädchen war das so albern, daß wir keine weiteren Worte darüber verlieren. Der Wert liegt im Motiv, nicht im Geschenk. Jeder kann ein Schmuckstück weitergeben, aber niemand kann mir Fina geben. Vom Tag deiner Geburt an, was könnte ich mehr verlangen?«
    Abrupt machte sie eine Pause, blieb ganz ruhig stehen, eine Hand hinter ein Ohr gelegt. »Was ist das? Was höre ich da?«
    Joey hielt die Luft an, wagte nicht zu sprechen. Weit entfernt und schwach, doch deutlich wie ihr Herzschlag tänzelte die Musik über zwei Autobahnen hinweg, lockend und lieblich, widersprach sich freudig mit jeder Kadenz: für die Ewigkeit gemacht, auf lächerliche Weise anziehend. Und Abuelita hörte es. Joey hätte die Musik Shei’rahs auf dem Gesicht ihrer Großmutter erkannt, selbst wenn sie taub wie ein Stein gewesen wäre.
    Unwillkürlich legte Abuelita eine Hand an die Brust, die Augen jung vor Sehnsucht. »Das«, flüsterte sie. »Die Traummusik. Die konntest du mir geben.«
    »Die Traummusik.« Jemand, der nicht Joey war, schien zu sprechen, aus weiter Ferne. »Du kannst sie hören?«
    »Jede Nacht«, sagte Abuelita. »Jede Nacht, die ganze Nacht lang, ich weiß nicht, wie lange. Ich träume von so seltsamen Orten, Fina, du würdest nicht glauben, wie seltsam. Gesichter, Tiere, solche Sachen – und immer diese Musik. Einmal habe ich Brittany davon erzählt – sie ist meine Krankenschwester, was für Namen die haben –, und sie hat mir eine Spritze gegeben. Also erzähle ich niemandem mehr von der Musik. Nur dir.«
    Später, als sie alle möglichen Erklärungen brauchte und keine einzige von ihnen glaubhaft war, bezweifelte Joey kein einziges Mal, was sie in diesem Augenblick geantwortet hatte.
    »Okay«, sagte sie. »Okay, Abuelita. Gehen wir hinein und holen deinen Mantel und vielleicht noch ein paar andere Sachen. Ich bring’ dich zur Traummusik.«
    Am Ende mußten sie Silver Pines ohne Erlaubnis verlassen. Zum einen war Abuelita für den Nachmittag zur Massagetherapie eingeteilt, zum anderen durften die Bewohner das Gelände nicht in Begleitung

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