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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Minderjähriger verlassen. Außerdem wurde abends Harold und Maude gezeigt, und der Gedanke, daß eine alte Frau bereit wäre, Harold und Maude zu versäumen, schien einigermaßen verdächtig. Sie hatten schon zwei Busse verpaßt, bis Abuelita die Sache endlich in die Hand nahm und Joey zur Hintertür führte, deren Wächter einen verbotenen Walkman in seiner Uniformtasche hatte und nur aufblickte, wenn ein Lastwagen hupte. Sie schlichen vorbei, ohne seine schnipsenden Finger ein einziges Mal aus dem Takt zu bringen.
    Seit Joey denken konnte, war Abuelita stets die Abenteurerin der Familie gewesen, die Erwachsene, die am ehesten vorschlug, sich nach China durchzugraben, einen wunderbar beängstigend leeren Schuppen zu erkunden oder über einen sommerlichen See hinüber zur Baja California zu rudern. Jene Abuelita, mit der Joey so oft durch die halbe Stadt gelaufen war, auf der Suche nach einer berühmten Zigeunerin, die aus der Hand las, einen Maria-Felix- oder Cantinflas-Film oder einer Freundin aus ihrer Kindheit in Las Perlas, war ihr fast so unermüdlich wie sie selbst erschienen. Und diese Abuelita, so wenige Jahre später, war schon nach den langen Busfahrten offensichtlich erschöpft, obwohl sie sich weder beklagte noch um Erklärungen bat. Der Musik Shei’rahs galt nach wie vor ihre ganze Aufmerksamkeit, und diese blühte noch in ihren Augen. Doch hinkte sie nach nur wenigen Blocks, und unter der braunen Indianerhaut sah Joey eine erschreckende Blässe heraufziehen.
    Ein Block noch. Der Mond ist schon aufgegangen, gut. Ein Block noch bis zur Alomar, und dann sind wir in Shei’rah, und alles wird gut. Alles wird gut, sobald wir die Grenze nach Shei’rah hinter uns haben.
    Doch die Grenze war nicht mehr da.
    Abuelita lehnte sich gegen den Briefkasten und ruhte sich aus, während sie selbst alle Richtungen absuchte und mit zunehmender Verzweiflung in eine Gasse und dann halb über die Straße lief… alles umsonst. Noch immer war die Musik trotz des Verkehrs auf der Valencia zu hören, doch war kein vertrauter Schimmer in der dunkler werdenden Luft zu sehen, nicht die leiseste Andeutung einer anderen Welt, die einen Schritt entfernt ihren eigenen Silbermorgen atmete. Die Grenze war nicht mehr da.
    Geduldig wartete Abuelita am Briefkasten. Joey wandte sich um und ging langsam zu ihr zurück. Sie sagte: »Abuelita, ich kann dich nicht dorthin bringen, woher die Musik kommt. Es ist dieses Land, von dem ich dir erzählt habe, und ich wußte, wie man dort hingelangt, aber ich kann es nicht mehr finden. Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
    Ihre Großmutter lächelte und streichelte ihr Haar. »Das macht nichts, Fina. Du kannst mir auf dem Rückweg alles erzählen, und das ist sicher fast genauso gut. Es ist schon gut, Fina, du mußt nicht weinen.«

    »Es ist nicht gut«, sagte Joey. »Ich wollte dich wirklich, wirklich gern nach Shei’rah bringen. Weil es so besonders ist, zu besonders, als daß man es erklären könnte, und es gibt niemanden auf der Welt, dem ich es je zeigen könnte. Und jetzt ist es weg, ich habe es verloren und werde es nie wiederfinden, und du wirst es nie kennenlernen.« Nur eine Großmutter konnte die letzten beiden Worte verstehen.
    Abuelita hielt sie im Arm, dort an der Straßenecke, summte ihr mit tiefer Stimme etwas vor: »Kleine Fina, meine Kleine, du gibst noch immer keinen Ton von dir, wenn du weinst, was, mi corazón. Mein Herz, ist schon gut, ist schon gut. Abuelita glaubt dir alles, was du ihr erzählst, hat sie das nicht immer schon getan?« Plötzlich spürte Joey, wie ihr ganzer Körper sich versteifte und sie sich wütend aufrichtete. Auf englisch sagte Abuelita scharf: »Entschuldigen Sie, wir möchten ungestört sein. Gehen Sie weg.«
    Indigos Stimme antwortete, zynisch und formell. »Das würde ich gern. Aber vielleicht sollten Sie erst sie fragen.« Joey fuhr in Abuelitas Armen herum und sah ihn, kühl und schön wie eh und je in Jeans, graffitibespritztem T-Shirt und blauem Anorak. Er trug das silberblaue Horn. Seine Augen sahen im fahlen Licht des Mondes fast schwarz aus. Leise sagte er: »Die Grenze hat sich verschoben. Bald wird es eine noch größere Verschiebung geben, aber ihr könnt die Grenze noch erreichen. Sie ist nicht weit.«
    Joey starrte ihn an. »Du bist gekommen, um uns den Weg zu zeigen? Wieso? Warum solltest du dir die Mühe machen?«
    Zum ersten Mal war Indigos Lächeln so gequält und fragend, daß es fast menschlich wirkte. »Ich weiß nicht. Ich

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