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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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lächelte mich strahlend an und zeigte dabei ihre vom Zigarettenrauch hellbraun verfärbten Zähne. Sie hatte ihre verblassenden blonden Haare zu einem Knoten gebunden, trug eine Jeans und ein blaues Arbeitshemd.
    »Noch fünf Minuten, Männer«, rief einer der Unteroffiziere.
    Sie entließ mich aus ihrer Umarmung und sagte aufgeregt: »Ich bin stolz auf euch, Jungs. Daniel hat mir viel von Ihnen erzählt. Ich habe das Gefühl, Sie schon lange zu kennen.«
    »Ja, Ma’am. Das geht mir auch so.«
    »Ihr werdet also gute Freunde sein?«
    Ich schaute zu Murph, der entschuldigend mit den Schultern zuckte. »Ja, Ma’am«, sagte ich. »Wir teilen eine Stube und so weiter.«
    »Denken Sie daran, dass Sie mir jederzeit Bescheid sagen können, wenn Sie etwas brauchen. Ihr werdet von mir mehr Carepakete bekommen als alle anderen.«
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs Murphy.«
    Sterling befahl Murph, einem anderen Private zu helfen, das rote, weiße und blaue Konfetti an der Dreipunktelinie aufzufegen.
    »Und Sie passen gut auf ihn auf?«, fragte sie.
    »Äh … Ja, Ma’am.«
    »Macht Daniel einen guten Job?«
    »Ja, Ma’am, einen sehr guten.« Woher zum Teufel soll ich das wissen?, hätte ich gern erwidert. Ich kenne Ihren Sohn ja kaum. Aufhören. Hören Sie auf, mich mit Fragen zu bombardieren. Ich weigere mich, die Verantwortung für ihn zu übernehmen. Das ist nicht mein Ding.
    »Sie müssen mir versprechen, auf ihn aufzupassen, John.«
    »Selbstverständlich«, sagte ich, dachte aber: Lassen Sie mich endlich in Ruhe, ich will ins Bett.
    »Ihm wird doch nichts passieren? Sie müssen mir versprechen, ihn heil nach Hause zu bringen.«
    »Versprochen«, sagte ich. »Ich verspreche Ihnen, dass ich ihn heil nach Hause bringe.«

    Später, als ich von der Sporthalle zur Unterkunft ging, stieß ich auf Sterling. Er saß auf der Eingangstreppe, und ich blieb stehen, um noch eine zu rauchen. »Ist eine ganz nette Nacht, finden Sie nicht auch, Sarge?«
    Er erhob sich von den Stufen und begann, auf und ab zu laufen. »Ich habe Ihr Gespräch mit Murphs Mutter mitangehört.«
    »Ach, so. Das.«
    »Sie hätten das nicht tun dürfen, Private.«
    »Was?«
    Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften. »Na, kommen Sie: Versprechen? Im Ernst? Sie geben zu diesem Zeitpunkt noch irgendwelche scheiß Versprechen?«
    Das ärgerte mich. »Ich wollte nur, dass sie sich ein bisschen besser fühlt, Sarge«, sagte ich. »So wichtig ist das nun auch wieder nicht.«
    Er schlug mich zu Boden, bevor ich mich versah, verpasste mir zwei Hiebe ins Gesicht, den ersten unters Auge, den zweiten auf den Mund. Ich spürte, wie meine Vorderzähne in die Oberlippe schnitten, wie sich warmes, metallisch schmeckendes Blut in meinem Mund sammelte. Meine Lippen schwollen sofort an. Er hatte mir mit dem Ring, den er an der rechten Hand trug, einen Schnitt auf der Wange beigebracht, und das Blut lief in mehreren Rinnsalen über mein Gesicht und von dort in den Schnee. Er stand breitbeinig über mir und starrte mich an, schüttelte seine schmerzende Hand in der kalten Luft aus. »Melden Sie mich, wenn Sie wollen. Ist mir scheißegal.«
    Ich blieb im Schnee liegen und betrachtete die Sternbilder, die trotz des aus den Fenstern fallenden Lichts und des Scheins der Straßenlaternen an der nahen Straße deutlich zu erkennen waren. Ich sah Orion und den Großen Hund, und nachdem die Lichter in den Gebäuden erloschen waren, sah ich noch mehr Sterne – sie standen schon seit Jahrmillionen so am Himmel. Ich fragte mich, ob sie sich verändert hatten. Ich stand auf, schleppte mich die Treppen hinauf in unsere Stube. Murph richtete sich im Bett auf, aber das Licht blieb aus. Ich zog meine Uniform aus und warf sie in meinen Spind. Dann schlüpfte ich unter das straffe Oberbett.
    »War ein guter Abend«, sagte Murph. Ich erwiderte nichts. Ich hörte, wie er sich auf seiner Matratze umdrehte. »Alles klar?«
    »Ja, alles klar.« Mein Blick fiel aus dem Fenster, durch die Wipfel der immergrünen Bäume, die in Reih und Glied zwischen den Kasernengebäuden gepflanzt worden waren. Ich wusste, dass manche Sterne, die ich gesehen hatte, längst vom Himmel verschwunden, zu Nichts geworden waren. Ich hatte das Gefühl, ein Lügengespinst betrachtet zu haben, aber das war mir egal. Die Welt macht uns alle zu Lügnern.

Drei März 2005
    Kaiserslautern, Rheinland-Pfalz, Deutschland
    Auf der Autobahn zwischen der Air Base und Kaiserslautern wurde ich mir zum ersten Mal eines

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