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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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Verwirrung entsprach, wusste ich, dass die Sache im Grunde ganz einfach war.
    Murph selbst hatte dies angedeutet, als wir am Rand eines Feldes standen, auf dem zerschundene, bleiche Leichen wie Treibholz in der Sonne lagen. »Was nicht gegen die Regeln verstößt, ist Vorschrift«, hatte er damals gemurmelt, ohne diese Worte an eine bestimmte Person zu richten. Er sagte selten etwas, und deshalb hörte ich gut zu. Im Nachhinein grübelte ich immer wieder über die Bedeutung dieses Satzes, und nun, vor dem Haus mit den verhängten, schwach erhellten Fenstern stehend, begriff ich endlich. Der Mensch, dachte ich, hat schon immer versucht, der nackten Wahrheit auszuweichen – er wünscht sich eine offene Zukunft und keine Schicksalhaftigkeit, er will nicht, dass eine hagere Hand in sein Leben eingreift, er möchte das Geschehen als unbeteiligter Zuschauer verfolgen. Aber diese Erkenntnis stellte mich nicht zufrieden, und ich versuchte, einen tieferen Sinn hineinzulegen, so wie es die Deutschen vielleicht nach dem Ende des Krieges getan hatten – sie suchten damals einen roten Faden in den katastrophalen Ereignissen, bemalten ihre Gesichter mit Asche und den Pigmenten der Beeren, die sie im Frühjahr in Tälern gesammelt hatten, standen vor den Leichen von Kindern, Frauen und Greisen, alle bedeckt mit Laub und Gräsern, bereit, unter jenen Steinen verbrannt zu werden, mit denen man sie beschwert hatte, damit die Hitze und das Rauschen und Knacken der Flammen sie nicht aus ihrem ewigen Schlaf weckten.
    Während ich meinen Gedanken nachhing, ging die Tür auf. Ein Mann trat ins Freie, zog die Hutkrempe tief ins Gesicht. Bei meinem Anblick schlug er den Mantelkragen hoch, war nur noch eine in Stoff gehüllte Gestalt, die auf der Straße davoneilte. Er hatte die Tür nicht ganz geschlossen, und so konnte ich einen Blick in das Innere werfen. Frauen lachten und servierten in einer Art Salon Getränke. Auf den abgewetzten Möbeln saßen Männer, rieben sich die Hände, warteten darauf, dass die Frauen das Bestellte brachten und sich auf ihren Schoß setzten. Wenn die Frauen schließlich kamen, breiteten die Männer die Arme aus und legten den Kopf zurück. Musik drang ins Freie, und ich folgte ihr in das Haus.
    Ich setzte mich ganz hinten im Raum an eine improvisierte, kleine Bar. Das Lederpolster des Hockers war rissig, der Bezug löste sich großflächig ab. Die junge Frau hinter der Bar musterte mich von Kopf bis Fuß und sprach mich dann an, doch es war so laut, dass ich sie nicht verstand. Ich saß stumm da. Die Frau hatte feines, rotes Haar, das sogar in diesem verqualmten Raum von innen zu glänzen schien. Es wirkte künstlich geglättet und fiel etwas schief auf ihre Schultern, und ich stellte mir vor, dass ihre Locken hin und her schwangen, wenn sie sich bewegte. Ihre blasse Haut war sommersprossig, das rechte Auge geschwollen und lila verfärbt.
    »Whiskey?«, fragte ich. Meine Stimme klang so schüchtern und leise, dass ich erschrak; sie kam kaum gegen Qualm und Musik an, aber das Mädchen hatte mich offenbar verstanden. Sie holte eine Flasche aus dem obersten Regal. Ich schüttelte den Kopf, zeigte auf ein anderes Regal. »Weiter unten«, sagte ich. Sie schenkte mir ein, und ich trank einen tiefen Schluck, ließ den Whiskey durch die Kehle rinnen, bevor ich das Glas absetzte. Ihre Miene war ernst. Ich sah zu, wie sie durch den Raum ging und die Geschäftsmänner und Teenager am Arm berührte, die auf eine der Frauen warteten. Die Rothaarige schien heute von derlei Pflichten befreit zu sein, vielleicht wegen ihres blauen Auges.
    Ich saß lange allein an der Bar. Wenn sie mir nicht gerade einschenkte, lehnte sie an der Wand, die blassen Arme vor den kleinen Brüsten verschränkt. Sie würdigte mich keines Blickes, und wenn es doch einmal geschah, schaute sie sofort wieder weg. Ihre blauen Augen hatten rote Ränder, und nach ein paar Whiskey sprach ich sie an. »Alles klar bei dir?«, fragte ich. Ich lallte schon.
    Sie schwieg. Unsere Kommunikation bestand nur darin, dass sie mit gerunzelter Stirn die Flasche hob, um zu erfahren, ob ich noch ein Glas wollte.
    Da hörte ich, wie auf der Treppe jemand gegen die Wand krachte, und im nächsten Moment sah ich den hin und her wankenden Sergeant Sterling nach unten kommen. Ich war nicht überrascht, denn warum sollte ich der einzige GI sein, der von diesem Laden gehört hatte? Sterling, der aus einem Mundwinkel blutete, war im Unterhemd. In der linken Hand hielt er eine

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