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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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und ordentlich für die Interessierten zusammengefasst. Was mich betraf, so entglitt mir die Kontrolle über meine eigene Geschichte mit jedem Tag mehr. Ich hätte mich natürlich bemühen können. Es wäre nicht schwierig gewesen, alles zurückzuverfolgen: Dies geschah hier, das geschah dort, und alles zusammen mündete unausweichlich in diesen Augenblick. Ich hätte auf der Straße ein wenig Dreck auflesen, ein wenig Wachs von einer Altarkerze kratzen, aus dem Weihrauchfass ein wenig Asche entnehmen und dann alles vermengen können in der Hoffnung, etwas Grundlegendes darin zu entdecken, eine Offenbarung, die Gegenwart und Vergangenheit einen Sinn verlieh. Aber das tat ich nicht. Gewissheiten hatten sich spurlos aus meinem Denken verabschiedet. Ich hätte am Ende nur die Hände voller Dreck gehabt. Und als ich versonnen in der Kirche stand, wurde mir plötzlich bewusst, dass es einen eindeutigen Unterschied zwischen dem gab, was erinnert wurde, was man erzählte und was der Wahrheit entsprach. Doch ich rechnete nicht damit, diesen Unterschied jemals ausmachen zu können.
    »Nein danke. Bemühen Sie sich nicht.« Sein Angebot freute mich zwar, aber ich meinte, die Floskelhaftigkeit einer häufig wiederholten und damit bedeutungslos gewordenen Geste aus seinen Worten herauszuhören.
    »Vielleicht für einen Freund?«
    »Ja, ich hatte einen Freund. Für diesen Freund könnten Sie beten.«
    »Wer ist es?«, fragte der Priester.
    »Daniel Murphy. Ein Kamerad. Er fiel in Al Tafar. Er starb wie …« Ich drehte mich zu den Gemälden der Heiligen um. »Egal.« Bis auf den Lichtschein weniger Kerzen und einiger trüber Lampen war die Kirche dunkel.
    Da war Murph, er trieb auf die Biegung des Tigris zu, durch den Schatten, den der Grabhügel des Jonas warf, seine leeren Augenhöhlen nur noch Behältnisse für das Flusswasser, sein Körper von Fischen zerfressen. Ich spürte die Verpflichtung, mich wahrheitsgemäß an ihn zu erinnern, weil jede Erinnerung ihre eigene Bedeutung mit sich brachte, weil ich der Einzige war, der wusste, was mit Murph geschehen war. Aber wusste ich das wirklich? Wenn ich behaupten würde, in dieser Hinsicht Gewissheit erlangt zu haben, so wäre das eine Lüge. Ich versage jedes Mal, wenn ich versuche, mich richtig zu erinnern. Und wenn ich versuche, die Erinnerung zu verdrängen, kehrt sie umso schneller und heftiger zurück.
    »Und wofür soll ich beten?«, fragte er.
    Ich musste wieder an Sterling denken. »Scheißkerle«, zischte ich. Dann wandte ich mich an den Priester. »Ich danke Ihnen, Pater. Beten Sie, wofür Sie wollen – Hauptsache, es kommt Ihnen nicht wie Zeitverschwendung vor.«
    Ich verließ die Kirche, trat mit gesenktem Blick auf das Kopfsteinpflaster. Ich schien den Leuten aufzufallen, denn ich hörte unterwegs mehrmals leise Ausrufe des Erstaunens, sah aber nie auf. Das schaffte ich nicht. Meine Entfremdung war vollständig.
    Ich lief ziellos umher, bis ich am Stadtrand ein Gebäude sah, aus dessen rot verhängten Fenstern gedämpftes Licht fiel. Musik und Frauenstimmen drangen aus dem schmalen Spalt zwischen Fensterbank und Vorhangsaum. Ich hatte nicht gezielt nach diesem Ort gesucht, erinnerte mich aber daran, dass ein Cavalry Scout in Al Tafar mir die Adresse auf einer zerknickten Zigarettenschachtel notiert hatte. »Das beste Bordell seit Menschengedenken, wenn du eine Nummer schieben willst. Ein echter Knaller«, hatte er gesagt. Vielleicht hatte ich diesen Laden doch gezielt angesteuert. Mich erfüllte eine vage Sehnsucht. Ja, ich suchte etwas, hielt es aber für unwahrscheinlich, dass ich dabei eine Nummer schieben würde. Ich zündete mir eine Zigarette an und blieb lange vor dem Haus stehen. Der Regen fiel immer noch sanft auf die Stadt, und ich war fast bis auf die Haut nass. Meine Zigarette wurde feucht, brannte so ungleichmäßig, dass ich kräftig daran ziehen musste, damit sie nicht ausging.
    In diesem Laden konnte man sich offenbar gut amüsieren, aber Menschenansammlungen machten mich schon damals nervös. Ich wünschte, Murph wäre bei mir gewesen. Aber Murph war nicht da. Würde nie mehr da sein. Ich war allein.
    Wenn die Dinge in Al Tafar etwas anders gelaufen wären, wäre er vielleicht bei mir gewesen. Aber die Dinge folgen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten, nehmen keine Rücksicht auf unseren Wunsch nach einem anderen Verlauf. Obwohl ich, einem uralten Instinkt folgend, nach einer Erklärung suchte, deren Überzeugungskraft und Komplexität der Tiefe meiner

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