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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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vorbeisauste, dachte ich noch darüber nach, dass die einzigen Schatten, die ich in diesem Krieg bisher gesehen hatte, eckig gewesen waren: grelles Licht, das auf Gebäude und Antennen fiel, auf kantige Waffen im Gewirr der Gassen. Die Kugel kam so schnell, dass sie mich in null Komma nichts aus diesen Gedanken riss, und bevor ich mich versah, schossen meine Kameraden zurück. Ich fing auch an zu schießen, und die in der Kammer explodierenden Patronen hämmerten so laut auf mein Trommelfell ein, dass es in meinen Ohren piff. Innerhalb kürzester Zeit waren wir so benommen, als hätte jemand mit einer Stimmgabel einen Ton angeschlagen, der sich auf der ganzen Obstwiese ausbreitete und allen das Gehör raubte.
    Wir konnten nicht ausmachen, aus welcher Richtung auf uns geschossen wurde. Wir sahen nur herumfliegende Blätter, ringsumher tanzten Holzstückchen und Erdklumpen. Nachdem der Krach der ersten Salven verhallt war, hörten wir die Kugeln, die pfeifend die Luft zerrissen, abgefeuert von unsichtbaren Schützen. Angesichts des überwältigenden Gefühls, dass jeder Moment von entscheidender Bedeutung war, überkam mich eine Handlungsunfähigkeit, und ich nahm wie in Zeitlupe jeden sich bewegenden Zweig wahr, die Sonnenstrahlen, die durch das Laub fielen. Irgendjemand riss mich zu Boden, und als ich meine Sinne wieder beisammen hatte, robbte ich hinter eine Ansammlung verdorrter Bäume.
    Kurz darauf brüllte jemand: »Auf drei Uhr, verdammte Scheiße, auf drei Uhr!«, und obwohl ich niemanden gesehen hatte, betätigte ich den Abzug, wurde zuerst vom Mündungsfeuer meiner Waffe geblendet, danach vom Glanz der leeren Hülsen, die gegen die Rinde geschleudert wurden.
    Dann wieder Stille. Feuerbereite Trupps lagen überall auf dem malträtierten Boden der Obstwiese. Auf ganzer Linie wurden Blicke aus weit aufgerissenen Augen getauscht. Wir verständigten uns flüsternd, hatten nicht mehr genug Puste, um laut zu sprechen. Wir kamen wieder auf die Beine und drangen weiter vor.
    Als wir in einer Kette über die verheerte Obstwiese gingen, hörten wir weiter vorne ein Geräusch. Zuerst klang es wie leises Weinen; aus der Nähe wie das Blöken eines Lamms. Wir beschleunigten unsere Schritte und stießen auf unsere Gegner, die tot in einem flachen Graben lagen: Zwei ungefähr sechzehn Jahre alte Jungs, beide mit Einschüssen in Gesicht und Oberkörper. Ihre Gewehre lagen kaputt auf dem Boden. Ihre Haut hatte den natürlichen Braunton verloren, und ich fragte mich, ob dies am unregelmäßig durch das Laub fallenden Licht lag oder daran, dass ihr Blut unten im Graben zu Pfützen zusammengelaufen war.
    Die Sanitäter knieten neben einem Private aus dem dritten Zug, der einen Bauchschuss abbekommen hatte. Sie hatten ihm das Hemd ausgezogen. Er klapperte mit den Zähnen, wimmerte so kläglich wie ein Lamm. Wir wollten helfen, aber die Sanitäter scheuchten uns weg. Also sahen wir zu, murmelten: »Na los, Doc«, während die mit dem Blut des Private bedeckten Sanis versuchten, seine Eingeweide wieder in den Bauch zu drücken. Er war totenbleich, erbebte im Delirium am ganzen Körper. Wir wichen noch weiter zurück, bildeten einen Kreis. Seine Lippen verfärbten sich dunkellila. Rotz troff auf seine Oberlippe, und er zitterte so heftig, dass Speichelflocken auf sein Kinn flogen. Dann war er eine Weile still, und ich begriff, dass er tot war. Niemand sprach ein Wort.
    »Ich dachte, er würde noch etwas sagen«, murmelte ich schließlich.
    Die Kompanie zerstreute sich. Ein paar Männer des zweiten Zuges verschwanden. Murph saß am Rand des flachen Grabens, ließ die Beine baumeln, reinigte sein Gewehr. Einige meinten, auch sie hätten damit gerechnet, dass er noch etwas sagen würde. Als er einfach so gestorben war, hatten sie überrascht und betrübt dreingeschaut. Sie gingen ziellos davon.
    Sterling trat die Zigarette dicht neben der Leiche des jungen Mannes aus. Ein dünner Rauchfaden stieg zu den zerzausten Blättern auf. »Sie sagen meist nichts«, erklärte er. »Ich habe das nur ein einziges Mal erlebt.«
    Ein Kriegsreporter fotografierte alles: den am Grabenrand sitzenden Private, der den Gewehrlauf reinigte, den noch nicht zugedeckten Toten, der aus erloschenen Augen zum blauen, jetzt wolkenlosen Himmel über der Obstwiese aufschaute. Damals dachte ich, dass ihm die Bedeutung dessen, was er da sah, nicht mehr bewusst war. Heute denke ich anders darüber. Vielleicht bestand er nur noch aus Bewusstsein.
    »Und was hat er

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