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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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gesagt?«, fragte ich.
    »Wer?«, gab Sterling zurück.
    »Der Verwundete. Was hat er gesagt?«
    »Nichts Besonderes. Ich habe seine Hand gehalten. Hatte die Hose voll, denn wir lagen noch unter Beschuss. Ich war allein mit ihm. Aber egal.« Er verstummte kurz. »Ich kannte den Kerl nicht mal.« Sterling packte den Kragen seiner Schutzweste, schloss die Augen, holte tief Luft. Er nickte dem Fotografen zu, und beide bahnten sich einen Weg durch die abgerissenen Äste und Rindenstücke, die Toten und die Lebenden.
    »Was hat er gesagt?«, rief ich ihm nach.
    Er drehte sich um. »Sie würden den Worten zu viel Bedeutung beimessen, Bart. Hören Sie auf, sich über so einen Blödsinn den Kopf zu zerbrechen. Passen Sie lieber auf Ihren Kumpel auf.«
    Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Murph neben der Leiche kniete, die Hände auf den Oberschenkeln. Ich hätte zu ihm gehen können, unterließ es jedoch, denn ich wollte nicht für ihn verantwortlich sein. Meine eigenen Sorgen reichten mir. Ich begann ja auch, innerlich zu zerbröseln. Wie sollte ich da uns beide intakt halten?
    Gut möglich, dass ich in diesem Moment mein Versprechen brach. Vielleicht hätte er sich nicht aufgegeben, wenn ich ihn rechtzeitig getröstet hätte. Schwer zu sagen. Er wirkte auf jeden Fall eher neugierig als entsetzt. Er zog den Kragen des Toten gerade, bettete dessen Kopf in seinen Schoß.
    Ich wollte es unbedingt wissen. »Na los, Sarge. Rücken Sie raus damit.« Er sah mich an, und zu meiner Überraschung schien er ebenso müde wie ich.
    »Er hat geweint«, berichtete Sterling. »Und er sagte etwas wie: ›Ich krepiere, oder?‹ Und ich antwortete etwas wie: ›Ich fürchte ja.‹ Er hat noch mehr geweint, und dann war er still, und ich habe darauf gewartet, dass er weiterredet. Wie in einem scheiß Film oder so.«
    »Und?«
    »Er sagte: ›Hey, Mann, schau mal nach, ob ich mir in die Hose geschissen habe.‹ Dann war er tot.« Sterling klatschte in die Hände, wie zum Zeichen, dass er die Sache abgehakt, aus seinen Gedanken gestrichen hatte.
    Ich wandte mich ab, benommen und überwältigt, und kotzte meinen Magen leer. Trotzdem lief die Galle weiter in dünnen, gelben Fäden aus meinem Mund. »Was für eine Scheiße. Was für eine Scheiße.« Mehr brachte ich nicht heraus, während ich in den Graben kotzte. Als ich mich umwandte und ging, hörte ich, wie ein Verschluss klackte.
    Stunden später trafen wir auf den Rest der Kompanie. Der Reservezug sicherte das Gelände. Wir sollten eine Runde pennen. Für uns war der Tag noch nicht vorbei. Murph und ich fanden ein Erdloch und versuchten vergeblich zu schlafen.
    »Weißt du was, Bart?«, sagte Murph.
    »Was?«
    »Ich habe mich in der Essensschlange vorgedrängelt, genau vor diesen Typen.«
    Ich sah mich um. »Welcher Typ?«
    »Der tote.«
    »Oh«, sagte ich. »Bleib cool, Mann. Halb so wild.«
    »Ich komme mir vor wie ein Arsch.«
    »Ist schon gut.«
    »Ich habe das Gefühl, gleich durchzudrehen.« Er senkte den Kopf, rieb sich die Augen mit den Handtellern. »Ich war echt froh, dass es nicht mich erwischt hat. Verrückt, oder?«
    »Nein. Verrückt wäre es, wenn du diesen Gedanken nicht gehabt hättest.«
    Mir war das Gleiche durch den Kopf gegangen, als wir ihm beim Sterben zugeschaut hatten: wie froh ich war, nicht abgeknallt worden zu sein, wie furchtbar es gewesen wäre, wenn ich dort gelegen hätte. Jetzt war ich traurig, aber vor kurzem hatte ich noch gedacht: Gott sei Dank, dass der Typ gefallen ist, nicht ich. Danke, lieber Gott.
    Ich versuchte, Murph aufzuheitern. »Sind jetzt mindestens neunhundertachtzig, was?«
    »Ja. So ungefähr«, erwiderte er.
    Es klappte nicht. Es war ein mieser, kleiner Krieg.

    Wir marschierten weiter. Ein Vogel zwitscherte, vielleicht eine Lerche, vielleicht ein Fink, während ich müde durch den Staub trottete. Ich warf einen Blick über die Schulter, als wollte ich überprüfen, ob ich tatsächlich Wegstrecke zurücklegte. Ich ging weiter, trat so kräftig auf, wie in der Ausbildung gelernt. Ich hielt mein Gewehr, wie in der Ausbildung gelernt. Das gab mir Kraft, schenkte mir das Gefühl, ein Ziel vor Augen zu haben. Ich habe viele Handbücher studiert, aber ich schätze, dass ich nur diese beiden Dinge so gemacht habe, wie in der Ausbildung gelernt.
    Die verwaiste Stadt schwelte vor sich hin. Wir schliffen sie mit unseren modernen Waffen. Mauern zerbröckelten. Halbzerbombte Wohnblocks ließen den warmen Wind durch, der Müll und Staub umherwirbelte.

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