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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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drückte mich noch mal. Ich sah, dass ihre Hände etwas älter aussahen, als ich sie in Erinnerung hatte, mit dünnen Knochen, die sich auf der Handfläche abzeichneten. War ich nur ein Jahr fort gewesen? Sie berührte und drückte mich so stürmisch, als wollte sie sichergehen, dass ich nicht nur eine flüchtige Erscheinung war, als wäre es das allerletzte Mal.
    Ich löste ihre Hände von meinem Gesicht, hielt sie fest. »Alles in Ordnung, Ma«, sagte ich. »Bitte keine Szene.«
    Sie begann zu weinen. Sie klagte nicht, sie schrie nicht, sie wiederholte nur meinen Namen: »Oh, John, oh, John, oh, John, oh, John.« Sie riss die rechte Hand los, die ich immer noch festhielt, und schlug mich heftig auf den Mund. Tränen traten mir in die Augen, und ich legte meinen Kopf auf ihre Brust. Ich musste mich zu ihr hinunterbeugen, und sie hielt mich, wiederholte immer wieder meinen Namen, sagte: »Oh, John, endlich bist du zu Hause.«
    Schwer zu sagen, wie lange wir so dastanden, ich gebückt, damit sie mich umarmen konnte. Ich vergaß alles um mich herum, die Motorengeräusche, die vorbeikommenden Leute, die Reisenden, die mir ihren Dank zuriefen. Ich nahm nur meine Mutter wahr, es gab nur sie allein. Ich hatte das Gefühl, in die einzigartige Sicherheit des Mutterleibes zurückgekehrt zu sein, unangetastet und unantastbar für die Welt außerhalb ihrer Arme, die sie um meinen gesenkten Hals geschlungen hatte. Alles andere nahm ich nicht mehr wahr. Doch als sie sagte: »Oh, John, du bist zu Hause«, schenkte ich ihren Worten keinen Glauben.
    Die Heimfahrt auf der Interstate dauerte nicht lange. Wir brauchten eine gute halbe Stunde mit dem alten Chrysler. Ich ertappte mich bei dem angestrengten Versuch, mich an die Landschaft zu gewöhnen. Wir fuhren über die World War II Veterans Memorial Bridge, die den River James überspannte, und ich betrachtete das breite Flusstal. Die Sonne ging auf, und ein Licht von der Farbe unreifer Orangen zerstreute den Nebel in den Niederungen.
    Ich stellte mir vor, dort zu sein. Nicht in einigen Monaten, wenn ich als Zivilist unter den tiefhängenden Ästen der Schwarzerlen und Walnussbäume am Flussufer schwimmen würde, sondern als Soldat. Ich hatte das Gefühl, mir selbst dabei zuzusehen, wie ich im gelblichen Licht auf den Feldern am Fluss auf Patrouille ging – es war, als hätte ich die Welt, die ich gerade hinter mir gelassen hatte, auf diese übertragen. Ich suchte das Feld nach geeigneter Deckung ab. Eine Mulde zwischen Feldweg und Ufer wurde zu einer tiefen Rille, hinterlassen von den Rädern eines Trucks, die auf der vom Regen aufgeweichten Straße durchgedreht waren, und diese Rille bot gute Deckung, würde mich nach zwei Seiten hin schützen, bis ich Rückendeckung bekommen würde und wieder zurückweichen könnte.
    »Alles klar, Schatz?«, fragte meine Mutter. Niemand war auf dem Feld. Ich schon gar nicht. Ich erschrak beim Klang ihrer Stimme, und als wir das Ende der Brücke erreichten, kam ich wieder zu mir.
    »Ja, Ma, alles klar.«
    Ich ließ mich vom verschwommenen Grün der Bäume an den Highways und Nebenstraßen einlullen, bis ich mich halbwegs wohl mit mir selbst fühlte, und schließlich bogen wir auf den Kiesweg ein, der zu unserem Haus führte. Der Rasen war seit einer Ewigkeit nicht mehr gemäht worden.
    »Was möchtest du als Erstes tun, Liebling?«, fragte sie aufgeregt.
    »Ich würde gern duschen und dann … keine Ahnung – vielleicht eine Runde schlafen.«
    Es ging auf Mittag zu, und es war Frühling, und der Teich hinter dem Haus war still. Sie half mir, mein Gepäck in das Haus zu tragen, und ich ging in mein Zimmer. »Ich mache Frühstück, John. Das, was du am liebsten hast.« Die Sonne schien hell durch die Ritzen der hölzernen Fensterläden. Ich schloss sie und zog die Vorhänge zu. Ich knipste das Licht aus und schaltete den Deckenventilator ein. Das Brummen, mit dem er sich drehte, dämpfte den Verkehrslärm auf der Straße, das leise Klappern der Pfannen in der Küche. Ich konnte das Bratfett und den ungemähten Rasen riechen, das saubere Haus, das Holzgestell des Bettes. Alles Füllsel. Geräusche und Krach dienten nur dazu, leeren Raum auszufüllen. Meine Muskeln spannten sich in der Leere an, die ich immer noch Zuhause nannte.
    Das Zimmer war dunkel und kühl. Ich war müde. Ich faltete meine Jacke zusammen, legte sie auf den Nachttisch. Dann zog ich das Hemd aus. Löste den Gürtel und hängte ihn über den Bettpfosten. Ich setzte mich auf das

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