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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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Bett, schnürte den rechten Stiefel auf, zog den Strumpf aus. Die Erkennungsmarke, die am Schnürsenkel des linken Stiefels hing, glänzte im trüben Licht. Ich betastete sie, setzte mich gerade hin.
    Ich war am Verschwinden. Ich hatte das Gefühl, mich an diesem Frühlingstag in meinem dunklen Schlafzimmer Stück für Stück aufzulösen, bis nur noch ein Haufen sauber gefalteter Kleider übrig war. Dann wäre ich ein Fall für die Fernsehnachrichten. Ich sah es schon vor mir: »Heute beklagen wir einen weiteren Verlust«, würde es heißen, »wieder hat sich jemand nach der Heimkehr in Luft aufgelöst.« Prima. Ich bückte mich, um den Stiefel ganz aufzuschnüren, hängte mir die Erkennungsmarke um den Hals, wo sie auf ihrem Gegenstück zu liegen kam. Zog Stiefel und Strumpf aus. Hose und Unterwäsche. Ich war nicht mehr vorhanden. Ich öffnete den Kleiderschrank, stand vor dem Ankleidespiegel. Gesicht und Hände waren rotbraun gebrannt. Mein restlicher Körper, bleich und mager, schien vor dem Spiegel in der Luft zu hängen. Ich kroch seufzend in mein kühles Bett.
    Unter dem Ventilator liegend, hatte ich das Gefühl, als würden sich Körper und Geist abwechselnd auflösen und neu zusammensetzen. Das Motorengeräusch der Autos, die auf unser Haus zufuhren, schwoll an und verklang wieder. Ein Zug brauste heulend durch die Schneise im Wald, schien geradewegs auf mein schmales Bett zuzurollen, als würde ich neuerdings aus einem Stoff bestehen, der nicht nur den Lärm von Metall, sondern auch das Metall selbst anzog. Ich spürte meinen flatternden Puls hinter den Augenlidern. Wenn der Lärm verhallte und ein neues Ziel ansteuerte, atmete ich jedes Mal tief durch. Ich weiß nicht mehr, was ich träumte, aber Murph war da, jede Nacht war ich mit Murph und den immergleichen Geistern zusammen. Ich weiß nicht mehr, was ich träumte, aber irgendwann schlief ich ein.

Sechs September 2004
    Al Tafar, Provinz Ninive, Irak
    Wir hatten die Obstwiese fast erreicht, als ein Vogelschwarm aufflog. Die Tiere hatten sich erst vor kurzem niedergelassen. Wippende Zweige zeugten noch von ihrer Anwesenheit, und nun kreisten sie am rötlichen Himmel vor den Federwolken wie ein improvisiertes Warnsignal. Ich hatte Angst, und es roch nach Kupfer und billigem Wein. Die Sonne war aufgegangen. Ihr gegenüber hing der Halbmond immer noch tief am Himmel, stach hervor wie in einem Pop-up-Kinderbuch.
    Wir hatten uns im Graben aufgereiht, standen bis zu den Knöcheln im nassen Schlamm. Ich hatte das Gefühl, als wäre dies der Endpunkt eines schlampig vorbereiteten Experiments in Sachen Unausweichlichkeit: Alles war am richtigen Ort, wartete darauf, dass die Zeit innehielt und die Kräfte an Schwung verloren, damit man den Verlauf im Nachhinein analysieren konnte. Die Welt kam mir so dünn vor wie ein Blatt Papier, und die Welt war die Obstwiese, und die Obstwiese war das, was uns nun bevorstand. Aber all das war Unsinn. Ich hatte einfach Angst zu sterben.
    Auf der Obstwiese herrschte Stille. Der Lieutenant schwenkte einen Arm, bis die Sergeants und Corporals auf ihn aufmerksam wurden. Dann warf er den Arm lang in Richtung Obstwiese aus und kroch aus dem Graben. Wir folgten ihm. Wir hörten die Tritte von gut zwanzig Männern im Staub, die weder langsam noch schnell vordrangen, hörten unseren Atem, der lauter wurde, als wir den weichen Boden der Obstwiese betraten und uns unter den ersten niedrigen Ästen duckten.
    Ich ging weiter. Ich ging weiter, weil Murph weiterging und weil Sterling und der Lieutenant weitergingen und ebenso die anderen Trupps und weil ich große Angst hatte, als Einziger zurückzubleiben. Also folgte ich dem Zug gebückt auf die Wiese.
    Als die Mörsergranaten einschlugen, zerfransten Blätter, Früchte und Vögel wie die Enden eines Seils, türmten sich verstreut auf dem Boden, zerfetzt, zerrissen, zersprengt. Der Sonnenschein fiel gleichgültig durch die Lücken zwischen den Baumkronen, ließ Vogelblutpfützen und Zitrusfruchtsaft funkeln.
    Die Trupps drangen im Halbkreis vor, jeder Mann gebeugt wie ein Greis. Wir achteten auf unsere Schritte, hielten Ausschau nach Stolperdrähten und anderen Anzeichen dafür, dass der Feind uns auflauerte. Niemand sah die Schützen, die uns unter Beschuss nahmen. Ich bildete mir ein, sie in der Ferne hinter den Bäumen erkennen zu können, ertappte mich dabei, die Schatten des Astwerks zu bestaunen, die von der Sonne auf den Boden geworfen wurden. Als die erste Kugel an meinem Kopf

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