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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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demonstrative Stärke und das Mitleidheischende in dieser Demonstration.
    Ich ging zum Telefon im Flur, hob den Hörer mit schlaffer Hand, mit einer Hand wie geronnenes Eiweiß, ich sprach mit belegter Stimme, mit einer Stimme, die in all ihre Einzelklänge zerfiel.
    Ich kam mit dem Mantel über dem Arm zurück.
    Mila schob die Katze weg und stand auf. An ihrem schwarzen Wollrock hafteten weiße Haare, sie schüttelte sie nicht ab. Ich sah mich die nächsten Tage mit Bindehautentzündung verbringen, mit Ausschlägen und Atemnot. Ich sah auch meinen dunklen Anzug weiß übersät, ich würde in ihm nach Hause fahren und mein Auto kontaminieren. Aber es war nicht der Zeitpunkt, kleinlich aufzurechnen.
    Ich nahm sie in den Arm, ich drückte sie fest an mich.

5 Verblendklinker
    Odilos Elternhaus lag neben den Weck-Werken in einem gemischten Wohngebiet. Von seinem Studierzimmer aus blickte er auf eine Zypressenwand, die den Palisadenzaun zum Glaswerk verdeckte. Man hörte Tag und Nacht die Bundesstraße, man hörte die Bahnlinie, auf der tags der Personennahverkehr und nachts der Güterverkehr vorüberrollte, man hörte ein nie nachlassendes Summen, da das Werk die Produktion in der Nacht nicht stoppte. Speziell des Nachts hörte man die Gabelstapler, die hinter dem Zaun die Paletten mit den Einmachgläsern verluden, ein durchdringendes Raunen, ein Einflüstern, gegen das man sich nicht schützen konnte.
    Die Gläser waren gut abgepolstert; kein Scheppern, kein Klirren. Aber man bildete es sich ein, daß sich bei dem unentwegten Hin- und Hermanövrieren auch die Ware bewegte auf ihrem Weg zum Verladebahnhof; ich bilde mir ein, daß ihn das Knirschen, mit dem dickwandiges Glas aneinanderstieß, die ganze Nacht wachhielt. Haushaltskonservenglas, Weithalsgetränkeflaschen. Kerzenlicht-Glas, Verpackungsglas, Glasbausteine. Eine Umgebung aus Glas, das man nie zu Gesicht bekam.
    Seine Mutter, Apothekerstochter, heiratete unter Niveau. Sein Vater erlag allzufrüh einer Krankheit, die Mutter lebte von ihrem Erbteil. Blieb in dem Haus mit der weißen Klinkerfassade, dessen Lage ihren Ansprüchen nicht angemessen schien, blieb dort aus Trotz.
    Sie nahm es dem Gatten übel, daß er sie alleingelassen hatte, weigerte sich, ihr Schicksal zu akzeptieren, und zog Odilowie ein Scheidungskind auf. Wenn man ihm begegnete, erfaßte man augenblicklich die Resignation seiner Mutter bei der Erziehung. Ihr fehlte das Einschätzungsvermögen, daß seine kindliche Affektiertheit nicht altersgemäß war, daß sein Erwachsenengehabe auf Verzweiflung beruhte, und sie beabsichtigte auch nicht, dagegen anzuwirken. Sie hatte ein Kind, vernünftig und ruhig, mit dem sie sich austauschen konnte. Ein fleißiges, ein ehrgeiziges Kind, überbehütet, eingeschlossen, verwöhnt, und doch in den entscheidenden Punkten im Stich gelassen. Er war schon als Kind ganz auf sich gestellt. Schon als Kind war er einer von denen, deren Leben sich leicht zur Patientengeschichte entwickeln kann. Schon als Kind sah ihn sein Umfeld als Fall.
    Er bezog das väterliche Arbeitszimmer, das noch die Möbel des Verstorbenen enthielt. Sein Vater hatte diese Möbel kaum genutzt, er war den ganzen Tag außer Haus gewesen. Odilo hingegen empfand diesem Raum gegenüber eine Verpflichtung, er bemühte sich, in ihn hineinzuwachsen, sich wie eine Intarsie in ihn einzubetten. Ich sehe ihn sepiafarben in diesem Raum, er vergilbt immer mehr, er verschwindet in einem erschreckenden Tempo in der Umgebung, den dämpfenden Teppichen, den hohen Bücherregalen mit ledergebundenen Klassikern, er geht chamäleonhaft in dieser Umgebung auf.
    Den Tag vor seinem Unfall, es war ein Samstag, verbrachte er, so viel weiß ich von Frau Leonberger, in äußerster Normalität.
    Er wohnte immer noch im Haus seiner Mutter. Oft witzelte er darüber, daß er die Rolle des Partnerersatzes blendend ausfülle, aber er sah keinen Grund, die Situation zu verändern. Warum sollte er eine teure andere Wohnung suchen, wenn er ausreichend Räume zur Verfügung hatte, und wer sollte seiner Mutter Gesellschaft leisten, die anfallenden Reparaturen im Haus erledigen, den Garten pflegen, wenn nicht er?
    Er stand im Morgengrauen auf und setzte sich an den Schreibtisch. Er beobachtete, wie es zwischen den Eibenzweigen heller wurde, wie der fahle Tag in sein Zimmer drang, die alten Möbel zu atmen begannen. Mit einem karierten Stofftaschentuch entfernte er eine Staubflocke, die sich auf halber Höhe an der Velourstapete

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