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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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war.
    Seine Mutter kam die Treppe herauf, sie klopfte an, trug einen schweren Duft herein, das Blitzen von Gold. Für einen Moment verharrte sie in der offenen Tür, wie jemand, der sich vergewissert hat, daß die Kinder keinen Unfug treiben, und der sich nun noch eine kurze Weile der Versunkenheit erlaubt, ihr Spiel betrachtend, ihre Freiheit und Friedlichkeit. Aber Frau Leonberger sah nicht auf ihren Sohn, sie sah aus dem Fenster auf die Eibenzweige, deren schwarze Nadeln kreuz und quer gegen die Scheibe stießen, sich überlagerten, eine abstrakte Fläche, die alles verschloß.

    Schwere Tischtücher, Porzellan mit Goldrand, Silberbesteck. Die kalte Mahlzeit, die sie einnahmen, Graubrot mit Salami, Schwarzbrot mit Heringssalat, schwarzer Tee mit Milch.
    An den Rändern bodenlange Vorhänge, düstere Möbel, ein hochgepolstertes Sofa, in das man keinen Millimeter einsank. Auf der Anrichte sangen Sammlerfiguren in einem stummen, domestizierten Engelschor.
    Er saß steif am Tisch, sein Teller bereits leer. Nur seine Füße bewegten sich, er hielt die Fersen am Boden und rollte wieder und wieder die Zehen ein. Verlegene Wellen, peinlicher Aufruhr, ein verwüstetes Meer in ihm, das er durch Körperspannung zurückhalten wollte.
    Die Straßenlaternen im Dunst, Luft, die nach Kartoffelschalen schmeckte. Lichtglocken, die nicht weit reichten, Lampen im Einmachglas. Er ging wie jeden Abend um den Häuserblock, etwas vorgebeugt, seine Gedanken ordnend. Die Feuchtigkeit hing in den zugewachsenen Vorgärten mit ihren Eiben, ihren Lebensbäumen und Wacholdersträuchern, in den Moosen auf niedrigen Mauern, sie hängte sich in sein kurzgesäbeltes Haar. Er zog die Jacke fest um sich, er ging sehr schnell.
    Sein Schönheitsbedürfnis, seine Liebe zur Natur – er war Abend für Abend vor die Aufgabe gestellt, die erbärmlichen Bepflanzungen der Siedlung, die gepflasterten Einfahrten mit grasbewachsenem Mittelstreifen, die den Verkehr beruhigenden Rabatten, die Gelbflechten auf den Bordsteinen mit dem Blick eines Zen-Mönchs zu sehen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Muster, die Wiederholungen, die Regelmäßigkeiten, auf den einen immer wiederkehrenden Vogelbeerbaum die ganze Straße lang. Dann auf die Abweichungen, den bizarren Wuchs einer Araukarie, das feine Rascheln von trockenem Pampasgras. Er nötigte sich selbst, aus der Vorhölle der Vorstadtsiedlung einen Vorhof der Ästhetik zu schaffen.

6 Dunkelbilder
    Ich sitze in meinem Büro und pfeffere einen Radiergummi gegen ein paar Tablettenschachteln, die ich als halbharte Ziele auf dem Besucherstuhl aufgebaut habe. Wut, wenn sie denn schon ausgelebt werden soll, auf keinen Fall an leidensfähigen Objekten abreagieren, Regel Nr.2. Ich bleibe auch selbstredend zu den Patienten ausgesprochen höflich, ich habe noch nie einen Pfleger in barschem Ton zurechtgewiesen, Kommunikation in heiligenhafter Beherrschtheit ist mir zur zweiten Natur geworden, Regel Nr. 1.
    Haloperidol fällt, Lorazepam fällt, Amitriptylin fällt, auch Diazepam. Amphetamin, eine schmale elegante Schachtel, nicht leicht zu erwischen, bleibt stehen, ich verschreibe gerne Amphetamin. Und ich nehme es auch gerne selbst, wenn ich Diagnosen schreiben muß wie jetzt und mich nicht darauf konzentrieren kann.
    Ich notiere mir meine vier Punkte, ich stelle alle Packungen wieder auf.
    Ich hebe schon die Hand, um wieder auszuholen, als mir bei dieser Bewegung einfällt, wie ich im Traum dieser Nacht eine Klingel drückte, und für einen Moment bin ich wieder von atemloser Erwartung gepackt.
    Dann hole ich Schwung und fahre in der Wurfbewegung fort, der Radiergummi prallt gegen die Wand, ich werfe einen Kugelschreiber nach, ich fege mir die Tablettenschachteln in den Arm, lasse sie eine nach der anderen an die Wand klatschen.
    Ich fuhr im Traum mit meinem Dreigangrad an den Strohblumen-, den Kopfsalat- und Rotkohlfeldern des Vorgebirges entlang. Es roch nach Kamille und zerhäckselten Rübenblättern. Auf meinem Gepäckträger klemmte ein Einkaufskorb aus dem Lebensmittelladen. Der rote Plastikgriff schlug bei jeder Bodenwelle gegen das Metallgitter, und im Korb hüpfte die Sammelbüchse scheppernd ein Stück in die Höhe. Ich war in Mission meiner Meßdienergruppe unterwegs, wir unterstützten notleidende Kinder in Ruanda, und ich war übereifrig losgefahren, ich strampelte in eine Gegend, die bisher niemand in Betracht gezogen hatte. Sie lag außerhalb unserer Kirchengemeinde, sie gehörte nicht zum

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