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Die Sonnenposition (German Edition)

Die Sonnenposition (German Edition)

Titel: Die Sonnenposition (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Poschmann
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dessen Bewegungen wie seine eigenen kennen. Man muß dahin gelangen, mit dem Wild eins zu werden, man muß die Verletzung, die man ihm zufügt, am eigenen Körper spüren.
    Das Wild, das man schießt, stirbt einen stellvertretenden Tod. Der Jäger stirbt mit ihm, aber der Jäger ersteht wieder auf und lebt weiter. Und zwar, wenn man so will, geläutert. Die Kraft der Beute ist auf ihn übergegangen, ihre Eleganz, ihre Schnelligkeit, ihre Macht.
    Es war mittlerweile einige Grad kälter geworden. Der Nieselregen wurde stärker und ging in Schneeregen über. Odilo nahm immer häufiger seine Brille ab und wischte sie mit einem Stofftaschentuch trocken. Ein trüber Tag, sprach ich beschwörend auf ihn ein, Rutschgefahr, minimale Sicht, die Bedingungen seien die besten. Wir bräuchten nur etwas Geduld.
    Odilo klopfte sich den nassen Schnee von den Schultern, keineswegs anklägerisch, er wirkte unbeteiligt.
    Waldeinsamkeit. Weihnachtstauwetter. Den Zaun entlang ein aufgeweichter Trampelpfad. Unsere Schuhe lösten sich bei jedem Schritt mit einem Schmatzen. Odilo tippte Zweige an, legte einer Baumrinde die Hand auf. Er berührte alles in diesem Wald, als sei es sein Eigentum. Stechpalmenblätter kratzten über den Stoff meines Anoraks. Die Beeren waren rot und reif. Odilo riß eine ab und zerkaute sie. Sie sind giftig, murmelte ich, aber so, daß er es nicht hörte. Er trug ungeeignetes Schuhwerk. Schon beim Aussteigen war er in eine Pfütze getreten, die tiefer war, als sie aussah, und in der er bis über den Knöchel versank. Er hatte keinen Schreckenslaut von sich gegeben, er hatte keine Beschwerde getan, er hatte nur kommentarlos den Fuß geschüttelt und gewartet, daß wir losgingen. Wie war ich darauf verfallen, ihn mitzunehmen? Ich war aufgeregt, ichmachte mir Hoffnungen, aber er bremste mit seinem kühischen Kauen der giftigen Beere meinen Elan.
    Wir hatten den Tag damit verbracht, um den Nürburgring zu kurven, hier und da auszusteigen, durch Schneematsch und über trübe Feldwege zu stapfen, wir hatten Schallschutzwände betrachtet und waren in den langweiligsten Orten der Republik eingekehrt, um uns mit einem lauwarmen Tee bei Laune zu halten. Wir fuhren im Kreis, es war ein weiträumiges Umkreisen des Ziels oder auch nur ein zielloses Kreisen, Schweifen, Streunen. Das endlose Fahren tröstete uns. Wir sprachen kaum miteinander auf dieser Strecke, es ging nur darum, unterwegs zu sein, mit einem vagen Ziel.
    Wir befanden uns bereits auf dem Rückweg. Wir hatten nichts gesehen. Seltsamerweise löste das bei mir ein Gefühl der Befriedigung aus, als hätten wir nichts verpaßt, als könnte alles noch kommen.
    Nacht, Beginn einer kühlen Dezembernacht, Schneeregen, schlechte Sicht, kein Sternenhimmel. Endlos wiederholte Schlieren des Scheibenwischers, quietschendes Gummi, ein Wegwischen der Dinge, unwirklich.
    Wir suchten Zuflucht unter der Lichtkapuze der Tankstelle, ein Schutzmantel, der die Zapfsäulen vom Wald abschirmte und in die Depressivität des Spätherbstwetters eine therapeutische Buntheit mischte, rotes und gelbes Licht, segenspendend wie die Weihnachtsdekoration in den Städten, aber auch verführerisch, einzutreten und etwas zu kaufen, Benzin, Bier, Schokolade, ein modernes Knusperhaus mitten im Wald. Der dickflockige Regen fiel grau und gleichmäßig, ein unmenschliches Gleichmaß. Auf alle Straßen sanken kieselhelle Brosamen, die sofort wegschmolzen, die uns in den Wald locken wollten, zwischen die immer gleichen Stämme und verfaulten Blätter.
    Wir stiegen an der Tankstelle aus, und es schien, als prallte der Wald auf uns, sein schwerer Geruch, nasses Nadelholz, sein Wogen, Wiegen, Wallen.
    Odilo warf die Wagentür zu und machte unwillkürlich ein paar Schritte zum Wald hin, nicht tänzelnd, nicht leichtfüßig, eher wie angezogen von etwas, dem er gleichzeitig Widerstand leistete, er trat schwerfällig vor, wie gezwungen, stolperte über eine flache Steinkante, die an der Einfahrt kümmerlichen Rasen umfriedete, stieg über die rutschige Kante in die Rasenpfützen hinein, stand so einen Moment, auf den schwarzen Wald starrend, sich in diesem Wald, seiner Unsichtbarkeit verlierend, bis ihn ein heftiger Windstoß erfaßte, in seine offene Jacke fuhr und die Schöße hob.
    Er kehrte zurück unter die Überdachung, er betrachtete seine schemenhafte Spiegelung in der Tanksäule, seine Jacke streifte die meine. Ich hängte den Tankstutzen ein und betrat den erleuchteten Verkaufsraum.
    Länger als nötig

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