Die souveraene Leserin
aufmunternden Klaps bekommen, so wie ein Kind, das der Mutter stolz sein Werk zeigt. Wie so oft in ihrem Leben war Fassade gefragt, sie sollte den Anschein von Interesse und Sorge erwecken. Männer (und dazu zählte auch Mrs. Thatcher) wollten Fassade. Immerhin hörten sie in dieser Anfangsphase noch zu und fragten sogar gelegentlich um Rat, doch mit der Zeit hatten ihre sämtlichen Premierminister mit beunruhigender Gleichförmigkeit auf den Vortragsmodus umgeschaltet, hatten die Queen nicht mehr zur Ermutigung, sondern als Publikum benötigt, und ihr zuzuhören hatte nicht mehr auf der Tagesordnung gestanden.
Nicht nur Gladstone hatte sich an seine Queen wie an eine öffentliche Versammlung gewandt.
Die Audienz an diesem Dienstag war nach gewohntem Muster verlaufen, und erst gegen Ende kam auch die Queen einmal zu Wort und konnte ein Thema anschneiden, das ihr tatsächlich am Herzen lag. »Was meine Weihnachtsansprache angeht.«
»Ja, Ma’am?«, sagte der Premierminister.
»Ich dachte, man könnte dieses Jahr etwas anderes versuchen.«
»Etwas anderes, Ma’am?«
»Ja. Wenn ich zum Beispiel ganz zwanglos lesend auf dem Sofa sitzen könnte oder, noch informeller, wenn die Kamera mich irgendwo entspannt mit einem Buch aufspüren und sich dann näher heranpirschen könnte – sagt man nicht so? –, bis ich mitten im Bild bin, und dann könnte ich aufblicken und sagen: ›Ich lese gerade dieses Buch über das und das‹, und dann in der Richtung weitersehen.«
»Und was wäre das für ein Buch, Ma’am?« Der Premierminister sah nicht sehr glücklich aus.
»Darüber müsste man noch nachdenken.«
»Vielleicht irgendetwas über die Weltlage?« Seine Miene hellte sich auf.
»Möglicherweise, allerdings bekommen sie davon schon aus der Zeitung genug. Nein. Ich dachte eher an Lyrik.«
»Lyrik, Ma’am?« Er lächelte schmal.
»Zum Beispiel Thomas Hardy. Ich habe neulich ein außerordentlich gutes Gedicht von ihm gelesen, darüber, wie die Titanic und der Eisberg, der sie versenkt hat, zusammenkamen. Es heißt Der beiden Zusammentreffen. Kennen Sie es?«
»Leider nicht, Ma’am. Aber inwiefern würde das helfen?«
»Wem helfen?«
»Nun«, dem Premierminister schien es ein wenig peinlich zu sein, es tatsächlich aussprechen zu müssen, »dem Volk.«
»Ah, sicher«, sagte die Queen, »es würde doch immerhin zeigen, dass wir alle dem Schicksal unterworfen sind, nicht wahr?«
Sie sah den Premierminister mit hilfsbereitem Lächeln an. Er schaute auf seine Hände.
»Ich glaube nicht, dass die Regierung sich eine solche Botschaft zu eigen machen sollte.« Die Öffentlichkeit durfte nicht den Eindruck gewinnen, die Welt ließe sich nicht organisieren. Dieser Weg führte geradewegs ins Chaos. Oder in die Wahlniederlage, was das Gleiche war.
»Ich höre«, und nun war es an ihm, hilfsbereit zu lächeln, »es gibt ganz ausgezeichnete Aufnahmen vom Besuch Eurer Majestät in Südafrika.«
Die Queen seufzte und drückte auf ihren Klingelknopf.
»Wir werden darüber nachdenken.«
Der Premierminister wusste, dass die Audienz vorbei war, als Norman die Tür öffnete und wartend stehenblieb. »Das also«, dachte er, »ist der berühmte Norman.«
»Ach, Norman«, sagte die Queen, »der Premierminister hat anscheinend noch nichts von Hardy gelesen. Vielleicht könnten Sie ihm beim Hinausgehen eines unserer alten Taschenbücher mitgeben.«
Zu ihrer eigenen leichten Überraschung bekam die Queen in gewisser Weise ihren Willen, denn auch wenn sie nicht auf dem Sofa lag, sondern an ihrem gewohnten Tisch saß, wenn sie auch nicht das Hardy-Gedicht vortrug (das war als »nicht zukunftsgerichtet« abgelehnt worden), so begann sie ihre Weihnachtsansprache doch mit dem ersten Absatz von Dickens’ Geschichte zweier Städte (»Es war die beste und die schlimmste aller Zeiten«), und das machte sie gut. Sie las nicht vom Teleprompter ab, sondern direkt aus dem Buch, und erinnerte die älteren unter ihren Zuschauern (und das war die Mehrheit) an die Sorte Lehrerin, die ihnen in der Schule vorgelesen hatte.
Von der Reaktion auf ihre Weihnachtsansprache ermutigt, hielt die Queen an ihrer Gewohnheit fest, in der Öffentlichkeit zu lesen, und als sie eines Abends spät ihr Buch über den Elisabethanischen Kompromiss zuklappte, kam ihr der Gedanke, den Erzbischof von Canterbury anzurufen.
Sie musste einen Augenblick warten, bis er den Fernseher leiser gestellt hatte.
»Erzbischof. Warum darf ich nie die Lesung vortragen?«
»Wie
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