Die souveraene Leserin
meinen, Ma’am?«
»Im Gottesdienst. Alle anderen dürfen irgendwann lesen, nur man selbst nie. Das ist doch nirgendwo festgelegt, oder? Ist es mir etwa untersagt?«
»Nicht dass ich wüsste, Ma am.«
»Gut. Dann werde ich einfach damit anfangen. Immer her mit den Sprüchen Salomos. Gute Nacht.«
Der Erzbischof schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Tanzshow Let’s dance zu.
Doch von nun an tauchte Ihre Majestät, vor allem in Norfolk, aber sogar auch in Schottland, regelmäßig am kirchlichen Lesepult auf. Und nicht nur dort. Als sie eine Grundschule in Norfolk besuchte, setzte sie sich auf einen der Schulstühle und las den Kindern eine Geschichte von Babar, dem Elefanten, vor. Die Gäste eines Banketts in der Londoner City kamen in das Vergnügen einiger Verse von Sir John Betjeman. Alle fanden solche spontanen Abweichungen vom üblichen Fahrplan bezaubernd, mit Ausnahme von Sir Kevin, den sie nicht um Genehmigung ersucht hatte.
Ebenso ungeplant war der Abschluss einer feierlichen Baumpflanzung. Nachdem sie mit leichter Hand einen Eichenschößling in die renaturierte Erde eines öden landwirtschaftlichen Großbetriebs oberhalb von Medway gesetzt hatte, lehnte sie sich auf den königlichen Prachtspaten und rezitierte auswendig Philip Larkins Gedicht Die Bäume mit seiner abschließenden Strophe:
Und doch sind ihre Kronen jeden Mai in voll gewachsener Dichte ausgeschlagen. Das letzte Jahr ist tot, so wollen sie sagen: Mach alles neu, mach neu, mach neu.
Und die klare, unverkennbare Stimme, die sich über das schüttere, windzerzauste Gras erhob, schien nicht nur zur versammelten Feiergemeinde zu sprechen, sondern auch zu sich selbst. Ihr Leben rief sie vor Augen, der Neuanfang war ihr eigener.
Doch so sehr das Lesen sie auch in Anspruch nahm, mit einem hatte die Queen nicht gerechnet: wie sehr es die Begeisterung für alle anderen Tätigkeiten dämpfte. Zwar war ihr auch früher bei der Aussicht auf eine weitere Schwimmbaderöffnung nicht gerade das Herz im Leibe gehüpft, aber immerhin hatte sie auch keinen Widerwillen empfunden. Wie eintönig ihre Termine auch sein mochten – hier ein Besuch, dort eine Versammlung –, so hatte sie dabei doch nie Langeweile empfunden. Dies waren ihre Pflichten, und wenn sie des Morgens ihren Tagesplan studiert hatte, dann nie ganz ohne Interesse oder Vorfreude.
Nun nicht mehr. Nun gedachte sie der unerbittlichen Abfolge von Rundreisen, Staatsbesuchen und öffentlichen Auftritten, die sich auf Jahre in die Zukunft dehnten, nur noch mit Schrecken. Kaum einmal konnte sie einen ganzen Tag für sich beanspruchen, niemals zwei hintereinander. Plötzlich war ihr alles zur Last geworden. »Ma’am sind müde«, sagte ihre Kammerzofe, als sie am Schreibtisch seufzte. »Es wird Zeit, dass Ma’am gelegentlich mal die Füße hochlegen.«
Aber das war es gar nicht. Es war das Lesen, und so sehr sie die Bücher auch liebte, so wünschte sie doch manchmal, sie hätte nie eins aufgeschlagen, wäre nie in anderer Menschen Leben eingetaucht. Das hatte sie verdorben. Oder ihr jedenfalls das hier verleidet.
Derweil kam und ging hoher Besuch, darunter auch der französische Präsident, der sich in der Genet-Frage als ziemliche Enttäuschung erwiesen hatte. Sie erwähnte das dem Außenminister gegenüber in der Nachbesprechung, die solchen Staatsbesuchen üblicherweise folgt, aber auch der hatte noch nie vom verurteilten Dramatiker und Romanautor gehört. Immerhin, sagte sie und schweifte dabei von den Bemerkungen des Präsidenten über anglo-französische Finanzfragen ab, wenn er auch in Bezug auf Genet (den er als »Stammgast der Billardkneipen« abgetan hatte) ein völliger Fehlschlag gewesen sei, so habe er sich doch als wahre Fundgrube in Sachen Proust erwiesen, von dem die Queen bis dahin nicht viel mehr als den Namen gekannt hatte. Der Außenminister kannte nicht mal den, daher konnte sie ihn ein wenig aufklären.
»Hatte ein schreckliches Leben, der arme Mann. Litt offenbar furchtbar unter Asthma und war im Grunde so jemand, zu dem man gern mal sagen möchte: ›Nun reißen Sie sich mal am Riemen, guter Mann.‹ Aber von solchen Leuten wimmelt es in der Literatur. Das Merkwürdige bei ihm war, wenn er seinen Kuchen in den Tee tunkte (abscheuliche Angewohnheit), dann stand ihm plötzlich sein ganzes bisheriges Leben vor Augen. Ich habe es auch versucht, und bei mir hat es keinerlei Wirkung gezeigt. Als ich klein war, waren Fuller’s Cakes der große Leckerbissen.
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