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Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bennett
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Romane für sie so etwas wie Insektenforschung, und die Figuren waren vielleicht nicht direkt Ameisen, aber doch nur mit Hilfe eines Mikroskops zu unterscheiden. Erst mit zunehmendem Verständnis sowohl der Literatur als auch der menschlichen Natur gewannen sie an individueller Note und Charme.
    Auch der Feminismus hatte bei ihr zunächst aus ganz ähnlichen Gründen kein leichtes Spiel, denn wie Klassenunterschiede schienen ihr auch Geschlechterdifferenzen angesichts des weiten Grabens zwischen der Queen und dem Rest der Menschheit unbedeutend zu sein.
    Aber mochte es nun Jane Austen oder Feminismus oder sogar Dostojewski sein, irgendwann ließ sich die Queen doch darauf ein und auf vieles andere mehr, aber selten ganz ohne nachträgliches Bedauern. Vor Jahren hatte sie einmal bei einem Dinner in Oxford neben Lord David Cecil gesessen und kein Gesprächsthema gehabt. Sie fand nun heraus, dass er Bücher über Jane Austen geschrieben hatte, und heute hätte sie ein Treffen mit ihm genossen. Doch Lord David war tot, es war also zu spät. Zu spät. Es war alles zu spät. Aber sie machte weiter, entschlossen wie immer und bemüht, aufzuholen.
    Auch der Hof machte weiter, der Haushalt lief rund wie immer, die Umzüge von London nach Windsor nach Norfolk nach Schottland gingen scheinbar mühelos vonstatten, jedenfalls von ihrer Warte aus, sodass sie sich manchmal bei der ganzen Veranstaltung beinahe überflüssig vorkam, da sich die ganzen Übergänge und Verschiebungen so völlig losgelöst von der Person in ihrem Mittelpunkt vollzogen. Ein Ritual des Abfahrens und Ankommens, bei dem sie im Grunde nur ein Gepäckstück war; zweifellos das wichtigste, aber dennoch nur Gepäck.
    In einer Hinsicht jedoch verliefen die königlichen Reisen noch glatter als in den Jahren zuvor, denn die Person, um die sich alles drehte, hatte die Nase fast immer in ein Buch gesteckt. Sie stieg am Buckingham-Palast in den Wagen und am Schloss Windsor wieder aus, ohne je Waughs Captain Crouchback bei der Evakuierung Kretas von der Seite zu weichen. Sie flog in der erfreulichen (wenn auch bisweilen anstrengenden) Gesellschaft Tristram Shandys nach Schottland, und wenn er sie zu langweilen begann, war Trollope (Anthony) nicht fern. Das alles machte aus ihr eine anspruchslose und willfährige Reisende. Sicherlich war sie nicht immer so pünktlich auf die Sekunde wie früher, und der wartende Wagen mit dem zusehends gereizter werdenden Herzog auf dem Rücksitz wurde ein vertrauter Anblick unterm Baldachin des Schlosshofs, aber wenn sie schließlich herausgeeilt kam, war sie kein bisschen gereizt, denn sie hatte ihr Buch.
    Ihr Haushalt jedoch musste solchen Trostes entbehren, und vor allem die Hofbeamten und die gehobene Dienerschaft wurden zunehmend unruhig und kritisch. Der Hofbeamte, so gediegen und von exquisiten Manieren er auch scheinen mag, ist doch im Grunde nur ein Inspizient; zwar weiß er (und gelegentlich auch sie) genau, wann Ehrerbietung geschuldet wird, aber genauso gut, dass es sich eigentlich um eine Darbietung handelt, die er beaufsichtigt und in der Ihre Majestät die Hauptrolle spielt.
    Das Publikum – und wenn es um die Queen geht, sind alle Publikum – weiß zwar auch, dass es Zeuge einer Aufführung wird, redet sich aber gern ein, dass es doch nicht ganz so ist und dass es womöglich gelegentlich einen kleinen Blick hinter die Kulissen werfen, Zeuge eines ›natürlicheren‹ oder ›echteren‹ Verhaltens werden kann – eine hier und da aufgeschnappte Bemerkung vielleicht (»Jetzt könnte ich einen Gin Tonic vernichten« von der verstorbenen Königinmutter, »verfluchte Köter« vom Herzog von Edinburgh), oder der Anblick der Queen, die sich bei der Gartenparty auf einem Stuhl niederlässt und dankbar die Schuhe abstreift. In Wirklichkeit sind solche angeblich unbewachten Momente natürlich genauso Theater wie die offiziellsten Auftritte der königlichen Familie. Man könnte sagen, bei diesen Vorstellungen wird Normalität gespielt, und das geht genauso geplant vor sich wie ein Staatsempfang, auch wenn die Augen- oder Ohrenzeugen glauben, die Queen und ihre Familie in einem menschlichen Moment ertappt zu haben. Formell oder informell, es gehört alles zur Selbstdarstellung, an der die Hofbeamten mitarbeiten und die für die Öffentlichkeit, abgesehen von diesen scheinbar spontanen Augenblicken, wie ein nahtloses Ganzes wirkt.
    Erst nach und nach dämmerte es den Dienern, dass diese vorgeblich ehrlichen Momente, in denen man

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