Die souveraene Leserin
die Queen sah, wie sie ›wirklich war‹, sich immer seltener ereigneten. Zwar kam Ihre Majestät all ihren Pflichten sorgfältig nach, doch das war auch alles: Sie tat nicht mehr so, als würde sie das Protokoll gelegentlich durchbrechen und eine unverhoffte Bemerkung einfließen lassen (»Vorsicht« vielleicht, wenn sie einem jungen Mann einen Orden anheftete, »ich will Ihnen ja nicht das Herz durchbohren«), eine Bemerkung, die man mit nach Hause nehmen und in Ehren halten konnte, so wie die Einladungskarte, den königlichen Parkausweis und den Plan des Palastbezirks.
Heutzutage war sie nur noch förmlich, lächelte zwar anscheinend von Herzen, doch wich sie auch nicht vom vorgeschriebenen Weg ab, um die Prozeduren aufzulockern, wie sie es früher getan hatte. »Schwache Vorstellung«, dachten die Hofbeamten und meinten tatsächlich, dass Ihre Majestät einen lahmen Auftritt hingelegt hatte. Doch konnten sie es sich nicht erlauben, auf diesen Mangel hinzuweisen, da auch sie die Täuschung aufrechterhielten, bei den spontanen Momenten handele es sich um ungeplante, natürliche Ereignisse, den echten Ausfluss Ihrer Majestäts Sinn für Humor.
Es war bei einer Amtseinführung gewesen.
»Heute weniger spontan, Ma’am«, wagte einer der kühneren Adjutanten einzuwerfen.
»Wirklich?«, fragte die Queen, die sich noch vor kurzer Zeit selbst mildeste Kritik solcher Art verbeten hätte, inzwischen jedoch kaum beeindruckt schien. »Ich glaube, ich weiß auch, wieso. Wissen Sie, Gerald, wenn die Menschen vor einem knien, schaut man ihnen ziemlich lange auf den Kopf, und aus diesem Blickwinkel wirkt noch die unsympathischste Gestalt anrührend: hier eine lichter werdende Stelle, dort das Haar, das über den Kragen wächst. Man bekommt beinahe mütterliche Gefühle.«
Nie zuvor hatte sie dem Hofbeamten gegenüber derartige Vertraulichkeiten geäußert, und er hätte geschmeichelt sein sollen, doch stattdessen war es ihm nur unangenehm und peinlich. Hier hatte die Monarchin tatsächlich einmal ihre menschliche Seite gezeigt, von der er nichts geahnt hatte und die ihm (anders als die vorgespielten) nicht ganz geheuer war. Und während die Queen selbst vermutete, ihre Gefühle seien wahrscheinlich eine Folge ihrer Lektüre, hatte der junge Mann eher den Eindruck, dass ihr Alter sich langsam bemerkbar mache. So verwechselte man keimendes Verständnis mit schleichender Vergreisung.
Sie selbst war gegen Verlegenheit immun, auch gegen solche, deren Ursache sie sein mochte, und daher wäre der Queen die Verwirrung des jungen Mannes früher gar nicht aufgefallen. Doch da sie nun aufmerksamer war, beschloss sie angesichts seiner Not, ihre Gedanken in Zukunft weniger freimütig mitzuteilen, was eigentlich schade war, denn viele Menschen ihres Landes sehnten sich gerade danach. Stattdessen beschränkte sie vertrauliche Anmerkungen auf ihre Notizbücher, wo sie niemandem schaden konnten.
Die Queen hatte nie demonstrativ gehandelt; so war sie nicht erzogen worden. Doch in letzter Zeit, besonders in der Phase nach dem Tod von Prinzessin Diana, wurde zunehmend von ihr verlangt, Gefühle öffentlich zu machen, die sie lieber für sich behalten hätte. Zu jener Zeit hatte sie allerdings noch nicht zu lesen angefangen, und erst jetzt verstand sie, dass ihre Situation nicht einzigartig war, dass es neben anderen Lears Tochter Cordelia ganz ähnlich ging. In ihrem Büchlein notierte sie: »Ich verstehe Shakespeare zwar nicht immer, aber den Satz ›Ich kann nicht mein Herz auf meine Lippen heben‹ unterschreibe ich voll und ganz. Ihre Lage ist auch die meine.«
Obschon die Queen ihre Aufzeichnungen immer sehr diskret verfasste, blieb der Adjutant beunruhigt. Er hatte sie ein- oder zweimal dabei ertappt und fand, auch dies deute auf mögliche Geistesschwäche hin. Was musste Ihre Majestät sich da notieren? Das hatte sie früher nie getan, und wie jede Änderung des Verhaltens bei älteren Menschen wurde es rasch als Verfall gedeutet.
»Wahrscheinlich Alzheimer«, sagte ein anderer junger Diener. »Da muss man ihnen doch alles aufschreiben, oder?« Zusammen mit der wachsenden Gleichgültigkeit Ihrer Majestät ihrer äußeren Erscheinung gegenüber befürchteten ihre Untergebenen das Schlimmste.
Dass man bei der Queen die Alzheimer’sche Krankheit vermutete, war an sich schon schlimm genug und rief das übliche menschliche Mitgefühl hervor, aber für Gerald und die anderen Diener gab es noch einen subtileren Grund, sie zu
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