Die souveraene Leserin
bemitleiden. Es schien ihm besonders traurig, dass gerade die Queen, die immer ein so abgehobenes Leben geführt hatte, nun wie so viele ihrer Untertanen diesem würdelosen Niedergang anheimfallen sollte. Er fand, eine solche Entwicklung verlange nach einer königlichen Rückzugsmöglichkeit, wo ihr Verhalten (oder das der Monarchen im Allgemeinen) mit mehr Gelassenheit oder gar Sorglosigkeit betrachtet würde, bevor man ihm die gleichmacherische Bezeichnung einer allzu gewöhnlichen Krankheit, Alzheimer nämlich, anheftete. Man hätte einen Syllogismus daraus konstruieren können, wenn Gerald gewusst hätte, was ein Syllogismus war: Alzheimer ist gewöhnlich, die Queen ist nicht gewöhnlich, daher hat die Queen nicht Alzheimer.
Hatte sie natürlich auch nicht, tatsächlich war ihr Verstand nie schärfer gewesen, und im Gegensatz zu ihrem Diener hätte sie mit Sicherheit gewusst, was ein Syllogismus ist.
Und worin bestand dieser Verfall überhaupt, abgesehen von ihren Notizen und ihrer inzwischen üblichen leichten Verspätung? Vielleicht in einer wiederholt angelegten Brosche oder einem zweimal getragenen Paar Hofschuhe. Tatsächlich kümmerte es Ihre Majestät nicht oder nicht mehr so sehr, und da sie selbst weniger darauf achtete, wurde auch ihre Dienerschaft, schließlich auch nur Menschen, etwas nachlässiger und ließ die Dinge schleifen, wie es die Queen zuvor niemals toleriert hätte. Die Queen hatte sich immer mit größter Sorgfalt gekleidet. Sie hatte ein geradezu enzyklopädisches Gedächtnis, was ihre Garderobe und ihre vielfältigen Accessoires betraf, und achtete penibel darauf, sie regelmäßig zu wechseln. Jetzt nicht mehr. Eine gewöhnliche Frau, die innerhalb von vierzehn Tagen zweimal dasselbe Kleid trug, würde man nicht als liederlich oder achtlos betrachten. Doch bei der Queen, deren Garderobewechsel bis zur letzten Gürtelschnalle ausgearbeitet war, signalisierten solche Wiederholungen eine dramatische Vernachlässigung der selbstgesetzten Standards.
»Ist es Ma’am egal?«, fragte eine Zofe kühn.
»Ist was egal?«, fragte die Queen zurück, was zwar auch eine Antwort war, aber die Zofe kaum zufriedenstellte, sondern sie vielmehr davon überzeugte, dass etwas grundsätzlich im Argen lag, sodass sich neben ihren Hofbeamten nun auch ihre Hausangestellten auf einen längeren Niedergang einstellten.
Obschon er sie jede Woche sah, blieben der gelegentliche Mangel an Veränderung im Aufzug oder die gleichbleibenden Ohrringe Ihrer Majestät vom Premierminister unbemerkt.
Das war nicht immer so gewesen, zu Beginn seiner Amtszeit hatte er der Queen des Öfteren Komplimente zu ihrer Garderobe und ihrem immer diskreten Schmuck gemacht. Da war er natürlich auch noch jünger gewesen und hatte es als eine Art Flirt betrachtet, obwohl es auch ein Zeichen von Nervosität war. Auch sie war jünger gewesen, allerdings kein bisschen nervös und lange genug im Rennen, um zu wissen, dass dies nur eine Phase war, welche die meisten Premierminister durchmachten (Ausnahmen waren Mr. Heath und Mrs. Thatcher), und dass das Flirten nachließ, sobald die wöchentlichen Gespräche zur Gewohnheit wurden.
Auch das gehörte zum Mythos der Queen und ihres Premierministers: dass die schwindende Aufmerksamkeit des Premiers für das Äußere Ihrer Majestät einherging mit dem nachlassenden Interesse an ihren Äußerungen, dass beides immer weniger wichtig schien, sodass die Queen sich mit Ohrringen oder ohne bei ihren gelegentlichen Kommentaren vorkam wie eine Stewardess, die den Fluggästen die Sicherheitsvorkehrungen erläutert, und die Miene des Premiers jene wohlmeinende, aber stark reduzierte Aufmerksamkeit spiegelte, die sich beim erfahrenen Flugpassagier findet, der das alles schon oft gehört hat.
Doch nicht nur er wurde unaufmerksam und gelangweilt, auch sie reute die Zeit, welche für diese Treffen verschwendet wurde, da sie nun lieber lesen wollte, und so gedachte sie, das Prozedere durch Bezüge auf ihre Lektüre und ihr gewachsenes geschichtliches Wissen zu beleben.
Das war keine gute Idee. Der Premierminister glaubte nicht recht an die Vergangenheit oder an irgendwelche Lehren, die aus ihr zu ziehen seien. Als er ihr eines Abends einen Vortrag über den Konflikt im Mittleren Osten hielt, wagte sie einzuwerfen: »Das ist die Wiege der Zivilisation, wie Sie wissen.«
»Und sie soll es auch wieder werden, Ma’am«, entgegnete der Premierminister, »wenn man unseren Vorschlägen folgt«, dann bog er rasch
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