Die souveraene Leserin
fiel ihr ein, also würde es vielleicht jetzt wieder helfen.
Aber weit gefehlt: Das Buch, das ihr damals so langatmig vorgekommen war, wirkte nun erfrischend knapp, trocken, aber auf bissige Weise, und Dame Ivys nüchterner Tonfall ähnelte beruhigend ihrem eigenen. Ihr ging auf (und sie schrieb es am Morgen nieder), dass Lesen unter anderem auch eine Fertigkeit war, die sie inzwischen offenbar trainiert hatte. Sie konnte den Roman leicht und mit großem Genuss lesen, über Bemerkungen (Witze konnte man sie kaum nennen) lachen, die sie beim ersten Mal fast nicht registriert hatte. Und das ganze Buch hindurch hörte sie die Stimme Ivy Compton-Burnetts, unsentimental, streng und weise. Sie hörte die Stimme so deutlich, wie sie am vorhergehenden Abend Mozarts Stimme gehört hatte. Sie klappte das Buch zu. Und noch einmal sprach sie es laut aus: »Ich habe keine Stimme.«
Und irgendwo im westlichen London, wo diese Dinge aufgezeichnet werden, fand eine ausdruckslos transkribierende Schreibkraft des Geheimdiensts diese Bemerkung eigenartig und sagte wie zur Antwort: »Na, meine Liebe, wenn du keine hast, dann weiß ich nicht, wer sonst.«
Im Buckingham-Palast wartete die Queen einige Augenblicke, ehe sie das Licht ausknipste, und der Polizist unter dem Trompetenbaum im Palastgarten sah das Licht ausgehen und schaltete sein Handy aus.
Im Dunkeln kam die Queen zu der Einsicht, dass sie tot nur noch in der Erinnerung der Menschen existieren würde. Sie, die doch nie jemandem Untertan gewesen war, wäre dann mit allen auf gleicher Höhe. Lesen konnte daran nichts ändern – Schreiben vielleicht.
Hätte man sie gefragt, ob Lesen ihr Leben bereichert habe, so hätte sie geantwortet, ja, zweifellos, aber ebenso überzeugt hätte sie hinzugesetzt, dass es ihrem Leben auch jedes Ziel genommen hatte. Sie war einmal eine selbstsichere, entschlossene Frau gewesen, die um ihre Pflichten wusste und gewillt war, sie so lange wie möglich zu erfüllen. Jetzt war sie allzu oft unentschlossen. Lesen war nicht Tun, das war immer schon das Problem gewesen. Und sie war vielleicht alt geworden, aber immer noch eine Frau der Tat.
Sie knipste das Licht wieder an und schrieb in ihr Notizbuch: »Man legt sein Leben nicht in seine Bücher. Man findet es in ihnen.«
Dann schlief sie ein.
In den folgenden Wochen las die Queen merklich weniger, wenn überhaupt noch. Sie war nachdenklich, vielleicht sogar geistesabwesend, aber nicht, weil sie in Gedanken bei ihrer Lektüre war. Sie trug keine Bücher mehr mit sich herum, und die Bücherstapel, die sich auf ihrem Schreibtisch angesammelt hatten, wurden in Regale einsortiert, in die Bibliotheken zurückgebracht oder anderweitig verteilt.
Aber mit oder ohne Lesen verbrachte sie doch viele Stunden am Schreibtisch, sah ihre Notizbücher durch und schrieb gelegentlich etwas hinein, obwohl sie ahnte, ohne es sich gänzlich einzugestehen, dass ihr Schreiben auf noch weniger Begeisterung stoßen würde als ihr Lesen. Wenn also jemand an die Tür klopfte, schob sie alles rasch in eine Schublade, bevor sie »herein« sagte.
Doch sie stellte fest, dass sie immer, wenn sie etwas aufgeschrieben hatte, und war es auch nur eine kurze Bemerkung ins Notizbuch, so froh war wie früher nach einer ersprießlichen Lektüre. Und wieder wurde ihr klar, dass sie nicht einfach nur Leserin sein wollte. Lesen war nicht viel mehr als Zuschauen, Schreiben jedoch war Tun, und Tun war ihre Pflicht.
Inzwischen verbrachte sie viel Zeit in der Bibliothek, vor allem auf Schloss Windsor, ging ihre alten Terminkalender durch, die Erinnerungsalben ihrer zahllosen Besuche, ihr persönliches Archiv.
»Suchen Eure Majestät nach etwas ganz Bestimmtem?«, fragte der Bibliothekar, als er ihr einen weiteren Stapel Material herangeschafft hatte.
»Nein«, sagte die Queen. »Man versucht sich nur zu erinnern, wie es war. Obwohl man nicht so genau weiß, was ›es‹ ist.«
»Nun, wenn Eure Majestät sich erinnern, dann werden Sie es mich wissen lassen, hoffe ich. Oder noch besser, Ma’am, Sie werden es aufschreiben. Eure Majestät sind ein lebendes Archiv.«
Sie hatte zwar das Gefühl, das hätte er auch taktvoller ausdrücken können, doch sie wusste, was er meinte, und wurde außerdem schon wieder von jemandem aufgefordert zu schreiben. Das wurde mittlerweile beinahe zu einer Verpflichtung, und darin war sie immer sehr gut gewesen, bis sie angefangen hatte zu lesen zumindest. Doch zum Schreiben oder zum Veröffentlichen
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