Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
überzeugen, aber genauso gut könnte sein Beweggrund der Wunsch gewesen sein, die Gefangenen davon abzuhalten, je wieder zu den Waffen zu greifen. Wie dem auch sei: Der ultimative Beweggrund für all die Gräuel war, den Muslimen Land und Ressourcen abzuringen und sie den Königreichen der Christenheit zuzuschlagen.
Auch der Islam reihte sich in diese Logik ein. Ebenfalls zu Diensten Gottes belagerten die Osmanen unter Sultan Mehmed II. im Jahr 1453 Konstantinopel. Die Christen beteten zur Dreifaltigkeit und allen Heiligen, als sie sich in der riesigen Hagia Sofia drängten, während die osmanischen Streitkräfte auf das Augusteum strömten. Die verzweifelten Gebete wurden nicht erhört. An diesem Tag war die Gunst Gottes bei den Muslimen, und die Christen wurden niedergemetzelt oder als Sklaven verkauft.
Niemand brachte die tiefe Verbindung zwischen menschlicher und göttlicher Gewalt in den abrahamitischen Religionen besser zum Ausdruck als Martin Luther in seiner Schrift «Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können» (1526):
Wohin rechnest du aber ein, daß die Welt böse ist, die Leute nicht Frieden halten wollen, rauben, stehlen, töten, Weib und Kind schänden, Ehre und Gut nehmen? Solchem allgemeinen Unfrieden in aller Welt, vor dem kein Mensch bestehen könnte, muß der kleine Unfrieden, der da Krieg und Schwert heißt, steuern. Darum ehrt Gott auch das Schwert so hoch, daß er’s seine eigene Ordnung nennt, und will nicht, daß man sagen oder wähnen sollte, Menschen hätten es erfunden oder eingesetzt. Denn die Hand, die solch ein Schwert führt und würgt, ist alsdann auch nicht mehr eines Menschen Hand, sondern Gott henkt, rädert, enthauptet, würgt und führt Krieg. Es sind alles seine Kriege und Gerichte. [ 28 ]
Und so ist es immer gewesen. Thukydides berichtet, die Athener hätten das unabhängige Volk von Melos aufgefordert, im Peloponnesischen Krieg das Bündnis mit Sparta aufzukündigen und sich dem Attischen Seebund anzuschließen. Gesandte beider Städte diskutierten die Frage. Die Athener erklärten, welches Fatum die Götter den Menschen bestimmt hätten: «doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt.» Die Melier erwiderten, sie würden sich niemals versklaven lassen und überließen sich der Gerechtigkeit der Götter. Daraufhin die Athener: «Wir glauben nämlich, vermutungsweise, daß das Göttliche, ganz gewiß aber, daß das Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht. Wir haben dies Gesetz weder gegeben noch ein vorgegebenes zuerst befolgt, als gültig überkamen wir es, und zu ewiger Geltung werden wir es hinterlassen, und wenn wir uns daran halten, so wissen wir, daß auch ihr und jeder, der zur selben Macht wie wir gelangt, ebenso handeln würde. Vor den Göttern brauchen wir also darum nach der Wahrscheinlichkeit keinen Nachteil zu befürchten.» Als die Melier sich weiterhin verweigerten, rückten bald die attischen Streitkräfte an, um Melos gewaltsam zu erobern. Im ruhigen Ton der klassischen griechischen Tragödie berichtet Thukydides: «Die Athener richteten alle erwachsenen Melier hin, soweit sie in ihre Hand fielen, die Frauen und Kinder verkauften sie in die Sklaverei. Den Ort gründeten sie selbst neu, indem sie später 500 attische Bürger dort ansiedelten.»[ 29 ]
Die Erbarmungslosigkeit der menschlichen Natur symbolisiert eine bekannte Fabel. Ein Skorpion bittet einen Frosch, ihn über einen Fluss zu setzen. Der Frosch lehnt zunächst ab, aus Angst, der Skorpion könne ihn unterwegs stechen. Der Skorpion versichert dem Frosch, er werde das ganz gewiss nicht tun. Schließlich, so sagt er, werden wir beide untergehen, wenn ich dich steche. Der Frosch willigt ein, und auf halbem Weg sticht ihn der Skorpion. Warum hast du das getan, fragt der Frosch, als sie beide untergehen. So ist eben meine Natur, erklärt der Skorpion.
Man sollte nicht meinen, der Krieg, häufig begleitet von Genozid, sei ein kulturelles Artefakt einzelner Gesellschaften. Genauso wenig ist er ein Irrtum der Geschichte, das Ergebnis wachsenden Leids im Reifeprozess unserer Spezies. Krieg und Genozid sind universell und ewig, sie gehören nicht zu bestimmten Zeiten oder Kulturen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind gewaltsame zwischenstaatliche Auseinandersetzungen deutlich weniger geworden, was zum Teil auf die nukleare Pattsituation der Hauptmächte zurückzuführen war (zwei Skorpione in einer Riesenflasche).
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