Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
Gesellschaften fast jeder mit jedem verwandt ist, wenn auch nur entfernt. Da ergeben sich natürlich ein paar verwirrende Fragen: Wer gehört zur Eigengruppe und wer zur Fremdgruppe? Welches Töten gilt als Totschlag und welches als Kampfhandlung? Solche Fragen und Antworten drehen sich irgendwann im Kreis. Zum Teil hängt also diese so genannte Friedfertigkeit mehr davon ab, wie man Totschlag und Kampfhandlung definiert, als von der Wirklichkeit. Im Grunde führten einige dieser Gesellschaften doch Kriege, aber man tat sie eben gewöhnlich als klein und unbedeutend ab.»[ 32 ]
Die Schlüsselfrage zur Dynamik der genetischen Evolution des Menschen lautet, ob die natürliche Selektion auf Gruppen ebene stark genug war, um den Einfluss der natürlichen Selektion auf der Ebene des Individuums auszuhebeln. Anders gefragt: Waren die Kräfte, die instinktives altruistisches Verhalten gegenüber anderen Gruppenmitgliedern förderten, stark genug, um individuelles egoistisches Verhalten zu benachteiligen? Mathematische Modelle aus den 1970er Jahren haben ergeben, dass die Gruppenselektion überwiegen kann, wenn die Aussterbensrate von Gruppen oder die Dezimierung innerhalb von Gruppen ohne altruistische Gene sehr hoch liegt. Ein bestimmter Typ solcher Modelle legt Folgendes nahe: Übersteigt die Wachstumsrate der Gruppenvermehrung mit altruistischen Mitgliedern die Wachstumsrate egoistischer Individuen innerhalb der Gruppen, so kann sich genbasierter Altruismus in einer Gruppenpopulation ausbreiten. Erst 2009 erstellte der theoretische Biologe Samuel Bowles ein realistischeres Modell, das gut mit den empirischen Werten harmoniert. Sein Ansatz beantwortet folgende Frage: Angenommen, kooperative Gruppen hatten bessere Chancen, sich im Konflikt gegen andere Gruppen durchzusetzen, gab es dann ausreichend Gewalt zwischen Gruppen, damit sie die Evolution des menschlichen Sozialverhaltens beeinflussen konnte? Schätzungen der Sterblichkeitsraten in Gruppen von Jägern und Sammlern von der Jungsteinzeit bis heute, die in Tabelle 8.1 aufgeführt werden, stützen genau diese These.[ 33 ]
Stammesaggressivität reicht damit weit hinter die Jungsteinzeit zurück; allerdings kann bisher niemand sagen, wie weit. Der Anfang lag vielleicht beim Homo habilis , dessen Populationen zur Deckung ihres Fleischbedarfs stark auf Aasfund oder Jagd angewiesen waren. Und es kann sehr gut sein, dass dieses Erbe noch sehr viel älter ist und vor die Trennung zwischen den Abstammungslinien des modernen Schimpansen und des Menschen vor sechs Millionen Jahren zurückgeht. Etliche Forscher, angefangen mit Jane Goodall, dokumentierten Morde in Schimpansengruppen und Überfälle von Gruppen mit tödlichem Ausgang. Es zeigt sich dabei, dass Schimpansen, menschliche Jäger und Sammler und die ersten Ackerbauern innerhalb und zwischen Gruppen etwa dieselben Sterblichkeitsraten aufgrund von Gewaltakten aufweisen. Gewalt ohne tödlichen Ausgang ist allerdings bei Schimpansen deutlich verbreiteter, nämlich hundert bis zu tausend Mal häufiger als beim Menschen.[ 34 ]
Schimpansen leben in Gruppen von bis zu 150 Individuen, die Territorien von bis zu 38 Quadratkilometern verteidigen, und das bei niedrigen Populationsdichten von etwa fünf Individuen pro Quadratkilometer. Innerhalb der Verbände bilden sich kleine Untergruppen heraus. Die durchschnittlich fünf bis zehn Mitglieder jeder Untergruppe bewegen sich, fressen und schlafen gemeinsam. Männchen verbringen ihr ganzes Leben in derselben Gruppe, die meisten Weibchen dagegen emigrieren als Jungtiere zu benachbarten Gruppen. Männchen sind geselliger als Weibchen. Außerdem sind sie sehr statusbewusst und stellen sich selbst häufig zur Schau, was immer wieder in Kämpfe mündet. Sie bilden Koalitionen und nutzen vielfältige Strategien und Täuschungsmanöver, um die Rangordnung zu festigen oder ihr gänzlich zu entgehen. Die Muster kollektiver Gewalt bei jungen Schimpansenmännchen ähneln auffällig denen junger Männer beim Menschen. Sie haben beständig ihren eigenen Status und den ihrer Truppe im Auge; gleichzeitig vermeiden sie tendenziell offenen Massenkonflikt mit rivalisierenden Gruppen und starten stattdessen Überraschungsangriffe.[ 35 ]
Ziel der Überfälle männlicher Banden auf benachbarte Gruppen ist ganz offensichtlich die Tötung oder Vertreibung von deren Mitgliedern und die Ausweitung des eigenen Territoriums. Solche Eroberungen unter vollständig natürlichen Bedingungen beobachteten in
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