Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
schnell treten schon andere Begrenzungsfaktoren auf. Bei vielen Tierarten geht es dabei um die Verteidigung von Revieren, die dem Revierbesitzer ein ausreichendes Nahrungsangebot sichern. Löwen brüllen, Wölfe heulen und Vögel singen, um zu verkünden, dass sie sich in ihrem Revier befinden, und um konkurrierende Artgenossen fernzuhalten. Menschen und Schimpansen sind sehr territoriumsgebunden. Das zeigt sich in der offensichtlichen Bevölkerungskontrolle, die in ihrem Gesellschaftssystem angelegt ist. Darüber, welche genauen Ereignisse am Ursprung der Abstammungslinien von Schimpanse und Mensch eintraten – also bevor sich Schimpansen und Menschen vor sechs Millionen Jahren trennten –, lässt sich nur spekulieren. Meines Erachtens aber passen die vorliegenden Befunde am besten zum folgenden Ablauf. Der ursprüngliche Begrenzungsfaktor, der mit der Einführung des Jagens in Gruppen zur Versorgung mit tierischen Proteinen noch stärker wirksam wurde, war die Nahrung. Territorialverhalten entwickelte sich als ein Mittel, um das Nahrungsmittelangebot zu beschlagnahmen. Expansionskriege und Annektierungen führten zu vergrößerten Territorien und begünstigten Gene, die Gruppenkohäsion, Kooperation in Netzwerken und die Bildung von Bündnissen bewirkten.
Über Hunderttausende von Jahren verlieh der territoriale Zwang den kleinen, zerstreuten Verbänden des Homo sapiens Stabilität, so wie es noch heute bei den kleinen, verstreuten Populationen der modernen Jäger und Sammler der Fall ist. In dieser langen Phase ließen zufällig verteilte Umweltextreme die Populationsgröße innerhalb der Territorien ansteigen oder sinken. «Demografische Schocks» führten zu erzwungener Emigration oder zur aggressiven Ausdehnung von Territorien durch Eroberung oder zu beidem gleichzeitig. Zudem steigerten sie den Wert von Bündnissen außerhalb verwandtschaftsbedingter Netzwerke zur Überwindung anderer Nachbargruppen.[ 38 ]
Vor zehntausend Jahren begannen dank der neolithischen Revolution Landwirtschaft und Viehzucht weitaus größere Nahrungsmengen zur Verfügung zu stellen, so dass menschliche Populationen rasch anwachsen konnten. Dieser Fortschritt aber veränderte nicht die Natur des Menschen. Die Verbände wurden einfach größer, so schnell die reichhaltigen neuen Ressourcen es erlaubten. Als aber unvermeidlicherweise die Nahrung erneut zum Begrenzungsfaktor wurde, griff wieder der territoriale Zwang. Und die Nachkommen haben sich bis heute nicht verändert. Noch heute gleichen wir im Grunde unseren Vorfahren, die Jäger und Sammler waren, nur haben wir mehr Nahrung und größere Territorien. Je nach Region, so weisen es neuere Untersuchungen nach, haben die Populationen inzwischen eine Grenze erreicht, die ihnen der Nahrungs- und Wasservorrat setzt. Und so war es schon immer, für jeden Stamm, außer in den kurzen Phasen nach der Erschließung neuer Siedlungsgebiete, deren ursprüngliche Einwohner umgesiedelt oder getötet wurden.[ 39 ]
Der Kampf um die Kontrolle lebensnotwendiger Ressourcen geht weltweit weiter, und er wird immer erbitterter. Das Problem entstand deshalb, weil die Menschheit die große Gelegenheit nicht nutzte, die sich ihr beim Aufkommen der Jungsteinzeit bot. Damals hätte sie das Bevölkerungswachstum unter dem kritischen Grenzwert halten können. Wir aber, die Spezies Mensch, taten das Gegenteil. Wir konnten die Konsequenzen unseres anfänglichen Erfolges nicht absehen. Wir nahmen einfach, was wir bekamen, vermehrten uns weiter und konsumierten in blindem Gehorsam gegenüber den Instinkten, die wir von unseren niederen, unter brutaleren Zwängen lebenden altsteinzeitlichen Vorfahren geerbt hatten.
9.
DIE AUSWANDERUNG
Vor zwei Millionen Jahren durchstreiften die afrikanischen Australopithecina, deren Gene sich auf viele verschiedene Arten verteilten, noch die Savannenwälder und das Grasland Afrikas. Sie liefen auf den Hinterbeinen, was sie von sämtlichen anderen Primaten, die jemals existiert hatten, unterschied. Ihre Köpfe entsprachen in Form und Gebiss denen von Affen. Ihre Hirne waren nicht größer als die der großen Menschenaffen in ihrer Umgebung. Ihre Populationen waren klein und zerstreut, und zu jedem beliebigen Zeitpunkt hätten sie aussterben können. Und eine halbe Million Jahre später waren sie tatsächlich alle verschwunden.
Das heißt: alle außer einer. Die Radiation der Australopithecina hatte zu einem einzigen Überlebenden geführt, dessen Nachkommen nicht nur
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