Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
verborgene weibliche Geschlechtsteile und Verzicht auf die Markierung des Eisprungs, kombiniert mit beständiger sexueller Aktivität. Letztere fördert die Bindung unter Männchen und Weibchen sowie beidelterliche Brutpflege, die in der langen Phase der frühkindlichen Hilflosigkeit notwendig sind;
– einzigartig schnelles und substanzielles Wachstum des Hirnvolumens in der frühen Entwicklung (Anstieg auf die 3,3- fache Größe von der Geburt bis zur Geschlechtsreife);
– relativ schlanker Körperbau, kleine Zähne und geschwächte Kiefermuskeln, die auf eine Ernährung als Allesfresser hinweisen;
– Spezialisierung des Verdauungssystems auf Nahrung, die durch Garen weich gemacht wurde.
Vor etwa 700.000 Jahren entwickelten Populationen des Homo erectus größere Gehirne. Folglich hatten sie zumindest rudimentär einige der eben genannten diagnostischen Merkmale des Homo sapiens bereits erworben. Trotzdem sahen in dieser Frühzeit die Schädelformen noch ganz anders aus als heute. Der archaische Homo erectus besaß gewölbte Überaugenwülste, eine ausgeprägtere Schnauze und insgesamt einen breiteren Schädel als später der moderne Homo sapiens . Etwa 200.000 Jahre vor heute waren die afrikanischen Vorfahren dem heutigen Menschen schon näher gekommen. Die Populationen verwendeten auch schon weiterentwickelte Steinwerkzeuge und kannten womöglich schon erste Formen der Bestattung. Ihre Schädel aber waren immer noch relativ schwer gebaut. Erst vor etwa 60.000 Jahren, als der Homo sapiens aus Afrika auswanderte und sich rund um die Welt zu verbreiten begann, erwarb er die gesamten Skelettmaße der heutigen Menschheit.
Die Vorfahren, die Afrika verließen und die Erde eroberten, entstammten einer stark durchmischten genetischen Vielfalt. In ihrer gesamten Evolutionsgeschichte, über Hunderttausende von Jahren, waren sie Jäger und Sammler gewesen. Sie lebten in kleinen Verbänden, vergleichbar den heute noch überlebenden Verbänden aus mindestens dreißig und nicht mehr als etwa einhundert Individuen. Diese Gruppen waren lose verstreut. Die am engsten benachbarten Gruppen tauschten pro Generation einen kleinen Anteil von Individuen aus, wohl überwiegend Frauen. Sie entwickelten sich genetisch so weit auseinander, dass die Gesamtheit der Verbände (die Metapopulation, wie Biologen eine solche Gruppe nennen) weitaus vielfältiger war als die kleinere Gruppe Urmenschen, die Afrika schließlich verlassen sollten.
Dieser Unterschied hält sich bis heute. Es ist schon lange bekannt, dass Afrikaner südlich der Sahara genetisch eine weitaus größere Vielfalt aufweisen als die Ureinwohner anderer Erdteile. Wie groß diese Vielfalt tatsächlich ist, wurde besonders deutlich, als 2010 alle Protein-codierenden Genomsequenzen von vier Jäger-und-Sammler-Individuen der San (oder Khoisan) aus verschiedenen Teilen des Kalahari veröffentlicht wurden und außerdem die eines Bantu aus einem benachbarten Ackerbau treibenden Stamm im südlichen Afrika.[ 42 ] Erstaunlicherweise zeigte sich, dass trotz ihrer physischen Ähnlichkeit die vier San sich genetisch stärker voneinander unterschieden als ein durchschnittlicher Europäer von einem durchschnittlichen Asiaten.
Der Aufmerksamkeit der Humanbiologen und der medizinischen Forschung ist es keineswegs entgangen, dass die Gene heutiger Afrikaner für die gesamte Menschheit die reinste Schatzkammer sind. Bei ihnen ruht für unsere Art die größte genetische Vielfalt, und künftige Untersuchungen werden neues Licht auf die Vererbung der physischen und psychischen Charakteristika des Menschen werfen. Vielleicht ist es angesichts dieser und anderer Fortschritte der Humangenetik an der Zeit, eine neue Ethik der Rassen- und Erbvariation zu entwickeln, die stärker auf die Vielfalt an sich Wert legt als auf die Unterschiede, aus der sich die Vielfalt ergibt. Daraus ergibt sich ein genauer Maßstab für die genetische Vielfalt unserer Art. Diese Anpassungsfähigkeit ist gewissermaßen unser Aktivposten, von hohem Wert in einer zunehmend ungewissen Zukunft. Eine breite Vielfalt von Genen bedeutet für die Menschheit Stärke, weil sich aus ihr heraus neue Fähigkeiten entwickeln können, zusätzliche Resistenz gegen Krankheiten und vielleicht sogar ein neuer Blick auf die Realität. Aus wissenschaftlichen wie aus moralischen Gründen sollten wir lernen, die biologische Vielfalt des Menschen um ihrer selbst willen zu fördern, statt sie dazu zu nutzen, Vorurteil und Aggressivität zu
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