Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
ihrer Gesamtheit John Mitani und seine Mitarbeiter im ugandischen Nationalpark Kibale. Der zehn Jahre andauernde Krieg war geradezu unheimlich menschlich. Alle zehn bis vierzehn Tage drangen Patrouillen von bis zu zwanzig Männchen auf das gegnerische Territorium vor, bewegten sich ruhig im Gänsemarsch, musterten das Land vom Boden bis an die Baumkronen und hielten bei jedem Geräusch vorsichtig inne. Trafen sie auf einen größeren Trupp als ihren eigenen, so lösten die Invasoren ihre Reihen auf und rannten in ihr eigenes Territorium zurück. Trafen sie dagegen auf ein einzelnes Männchen, so sprangen sie gemeinsam auf es zu und hieben und bissen es tot. Weibchen blieben normalerweise verschont. Diese Nachsicht war freilich kein Akt der Galanterie. Hatte sie nämlich ein Junges bei sich, so nahmen sie es ihr weg, töteten es und fraßen es auf. Nach einer so langen, konstanten Ausübung von Druck annektierten am Ende die Invasoren das gegnerische Territorium und fügten auf diese Weise ihrem eigenen Land 22 Prozent Fläche hinzu.[ 36 ]
Es lässt sich auf Grundlage des heutigen Wissensstandes nicht mit Gewissheit sagen, ob Schimpansen und Menschen ihr Muster territorialer Aggressivität von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben oder ob sie es in Reaktion auf parallel laufenden Selektionsdruck und auf die Gegebenheiten in ihrer afrikanischen Heimat unabhängig voneinander herausbildeten. Versucht man freilich, die auffällig ähnlichen Details im Verhalten beider Arten mit Rückgriff auf möglichst wenige ungesicherte Vermutungen zu erklären, so muss die These gemeinsamer Vorfahren als wahrscheinlicher gelten.
Die Prinzipien der Populationsökologie erlauben es uns, den Ursprung für den Stammesinstinkt des Menschen genauer zu erforschen. Populationswachstum verläuft exponentiell. Wird jedes Individuum einer Population in jeder nachfolgenden Generation durch mehr als eines ersetzt – und selbst wenn dieser Anstieg nur minimal ausfällt, sagen wir um 1,01 –, so wächst die Population mit der Zeit immer schneller, so wie Geld auf dem Sparkonto oder verzinste Schulden. Eine Population von Schimpansen oder Menschen neigt stets zu exponentiellem Wachstum, wenn ausreichend Ressourcen vorhanden sind; doch nach wenigen Generationen wird selbst im besten Fall das Wachstum zwangsläufig gebremst. Es gibt immer einen Einflussfaktor, durch dessen Wirken die Population irgendwann die Maximalgröße erreicht und dann stabil bleibt oder auf- und abwärts schwankt. Gelegentlich bricht sie ein, und die Art stirbt lokal aus.
Worin besteht nun dieser Einflussfaktor? Es kann sich um etwas Beliebiges in der Natur handeln, dessen Wirkungsgrad mit der Populationsgröße steigt oder sinkt. Wölfe zum Beispiel sind der Begrenzungsfaktor für Hirsch- und Elchpopulationen, weil sie sie töten und fressen. Mit der Vermehrung der Wölfe wachsen Hirsch- und Elchpopulation nicht mehr an oder nehmen sogar ab. Gleichzeitig sind die Hirsch- und Elchmengen der Begrenzungsfaktor für die Wölfe: Geht der Raubtierpopulation die Nahrung aus, in diesem Fall Hirsch und Elch, so nimmt auch ihre Populationsgröße ab. Ein weiteres Beispiel für diesen Bezug ist der zwischen Krankheitserregern und den Wirten, die sie befallen. Bei einer Zunahme der Wirtspopulation in Größe und Dichte wächst die Parasitpopulation mit. In der Geschichte fegten immer wieder Krankheiten übers Land – Epidemien beim Menschen und Epizootien beim Tier –, bis die Wirtspopulationen weit genug reduziert waren oder ein ausreichender Anteil von ihnen Immunität erworben hatte. Krankheitserreger lassen sich als Räuber definieren, die ihre Beute weniger als eins zu eins auffressen.
Es gilt zudem ein weiteres Prinzip: Begrenzungsfaktoren wirken immer hierarchisch.[ 37 ] Nehmen wir an, Menschen töten die Wölfe und heben damit den primären Begrenzungsfaktor für Hirsche auf. Dadurch werden Hirsche und Elche zahlreicher – bis der nächste Faktor greift. Der kann zum Beispiel darin bestehen, dass die Pflanzenfresser ihr Revier überstrapazieren, so dass ihnen die Nahrung ausgeht. Ein weiterer Begrenzungsfaktor ist die Emigration, dass also Individuen bessere Überlebenschancen haben, wenn sie in andere Territorien abwandern. Emigration aufgrund von Populationsdruck ist ein hoch entwickelter Instinkt bei Lemmingen, Wanderheuschrecken, Monarchfaltern und Wölfen. Werden solche Populationen an der Emigration gehindert, so nehmen sie vielleicht wieder zu, aber sehr
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