Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
den Sinn, dass diese Schildläuse so groß waren (oder andersherum gesehen, dass ich so klein war), dass ich die Rolle einer Ameise spielen konnte. Gleichzeitig war ich glücklicherweise zu groß, als dass die Wächterameisen mich hätten verjagen können, obwohl sie das durchaus versuchten. Ich riss mir ein Kopfhaar aus und berührte damit den Rücken einer Schildlaus – so vorsichtig, wie eine Ameise sie mit den Spitzen ihrer Antennen berührte. Wie erhofft, drang ein großzügiger Tropfen des Exkrements aus. Ich nahm ihn mit einer feinen Pinzette auf, die ich bei mir hatte, und kostete ihn. Er schmeckte leicht süß. Ich wusste auch, dass ich hier eine kleine Portion Aminosäuren bekam, die ein guter Nährstoff für mich gewesen wäre, wäre ich eine Ameise. Aber für die Schildlaus war ich natürlich auch eine Ameise.
Die Partnerschaft zwischen Ameisen und Saftsaugern hat in der geologisch lang andauernden Assoziierung der beiden Insektenarten extrem weit geführt. Viele heutige Ameisenarten verwalten ihre Populationen sechsbeinigen Nutzviehs als Allzweckherden – in Zeiten von Proteinmangel fressen sie auch manche auf. Manche gehen sogar so weit, dass sie sie von ausgeweideten Futterquellen zu neuen, frischeren Pflanzen tragen. Eine Art in Malaysia wurde sogar zum Nomadenhirten, der seine gesamte Kolonie zusammen mit den gefangenen Saftsaugern periodisch von Ort zu Ort bewegt, um dauerhaft hohe Honigtaumengen zu garantieren.[ 2 ]
Symbiosen zwischen Ameisen und Homoptera-Saftsaugern sowie den Honigtau sekretierenden Raupen der Schmetterlingsfamilie Lycaenidae (Bläulinge) sind alles andere als triviale Kuriositäten. Rund um die Welt sind sie überaus häufig und gehören zu den wichtigsten Gliedern der Nahrungsketten, die viele terrestrische Ökosysteme zusammenhalten. Für den Menschen sind sie bedeutende Schädlinge in der Landwirtschaft. Den Ameisen dagegen ermöglichten es die Symbiosen, eine völlig neue Dimension der Landumwelt zu besetzen. Waren sie zuvor regelmäßig in die immergrünen Bereiche der tropischen Wälder hinaufgeklettert und zu ihrem Nest auf dem oder kurz über dem Boden zurückgekehrt, so konnten sie jetzt beständig hoch über dem Boden leben. In vielen Regionen der Tropen wurden die Ameisen so zu den häufigsten Insekten in der Blätterkrone.
Lange Zeit stellte die Dominanz der Ameisen in den Bäumen für die Biologen ein Rätsel dar. Wie konnten derart ausnehmende Fleischfresser so große Populationen erhalten? Dass sie so zahlreich am Ende einer Nahrungskette auftraten, schien einem Grundprinzip der Ökologie zu widersprechen. Jedes Gramm eines Fleischfressers verbraucht demnach mehrere Gramm Pflanzenfresser (grob berechnet, zehnmal so viel), etwa wenn ein Mensch Rindfleisch isst. Pflanzenfresser wiederum verzehren noch viel größere Mengen Vegetation, etwa Vieh auf der Weide.
Als irgendwann junge, unternehmungslustige Biologen die tropischen Baumkronen bestiegen und die Ameisengesellschaften dort direkt beobachteten, machten sie eine verblüffende Entdeckung. Die Ameisen sind nur Teilzeit-Fleischfresser. Zu einem großen Anteil ernähren sie sich auch von Pflanzen. Genauer gesagt, sie sind indirekte Pflanzenfresser. Baumameisen können Vegetation noch immer nicht selbstständig verdauen wie Raupen und Schildläuse. Dazu müsste ihr Verdauungssystem komplett umgerüstet werden. Sie können aber von den nährstoffreichen Exkrementen saftsaugender Gleichflügler leben, die in den Baumkronen sehr zahlreich sind. Ameisen schützen und steuern sorgfältig Herden von Saftsaugern, die sich in und um ihre Nester ansammeln. Einige der Symbionten werden in «Ameisengärten» gehalten, kugelförmigen Ansammlungen epiphytischer Pflanzen, die von den Ameisen kultiviert werden, etwa Orchideen-, Bromelien- und Gesneriengewächse. Die Gärten dienen sowohl als Behausung als auch als Weiden für die Symbionten.
In den Regenwäldern am Amazonas und auf Neuguinea habe ich selbst diese Gärten untersucht – zugegeben, nur auf den untersten Ästen, wo ich nicht klettern musste. Die Aggressivität dieser Ameisen erschreckte mich. Wann immer ich ein Nest störte, schwärmten zur Verteidigung Arbeiterinnen aus und bissen, stachen und versprühten giftige Sekrete auf jeden erdenklichen Teil von mir, den sie erreichen konnten. Die wahrscheinlich grimmigsten Ameisen der Welt am oder über dem Boden sind die der Art Camponotus femoratus , eine mittelgroße Verwandte der großen Rossameisenart Camponotus
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