Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
höchst effizient auf eine Sinneswahrnehmung spezialisiert, die dem Menschen völlig abgeht. Ebenso wenig nehmen wir das Magnetfeld der Erde wahr, das manche Zugvogelarten zur Orientierung nutzen. Auch die Polarisierung des Sonnenlichts in kleinen Himmelsfetzen sehen wir nicht; Honigbienen nutzen sie an wolkigen Tagen, um von ihren Stöcken zu Blumenbeeten und zurück zu finden.
26.1 Optische Anregung in visuellen Mustern. Von den drei computergenerierten Figuren stimuliert das mittlere, das einen mittleren Komplexitätsgrad aufweist, automatisch am meisten.
Unsere größte Schwäche aber ist unser erbärmlich schlecht ausgebildeter Geschmacks- und Geruchssinn. Über 99 Prozent aller Lebewesen vom Mikroorganismus bis zum Tier nutzen olfaktorische Wahrnehmungen, um sich in ihrer Umwelt zu orientieren. Auch die Fähigkeit, über besondere chemische Stoffe, die sogenannten Pheromone, zu kommunizieren, haben sie perfektioniert. Der Mensch dagegen gehört mit Affen und Vögeln zu den wenigen Formen des Lebens, die überwiegend audiovisuell geprägt sind und deren Geschmacks- und Geruchssinn dementsprechend verkümmert ist. Verglichen mit Klapperschlangen und Bluthunden sind wir geradezu stumpfsinnig. Dass wir so schlecht schmecken und riechen können, zeigt sich auch im geringen Umfang unseres chemosensorischen Vokabulars, so dass wir meistens auf Vergleiche und andere Formen von Metaphern zurückgreifen müssen. Ein Wein hat ein delikates Bouquet, sagen wir, sein Geschmack ist vollmundig und leicht fruchtig. Und riechen kann etwas nach Rosen, Kiefernnadeln oder nach frisch gefallenem Regen.
So tapsen wir denn durch unser chemisch höchst anspruchsvolles Leben in einer chemosensorischen Biosphäre und nutzen dabei Klang und Sicht, die vor allem für das Leben auf den Bäumen evolviert wurden. Nur dank Wissenschaft und Technik konnte die Menschheit in die grenzenlosen sinnlichen Welten im Rest der Biosphäre eindringen. Über Messinstrumente können wir die Sinneswelten der anderen Lebewesen in unsere eigene übersetzen. Und dabei sind wir inzwischen beinah imstande, bis an den Rand des Universums zu sehen und sogar den Zeitpunkt seines Entstehens abzuschätzen. Wir werden uns nie orientieren, indem wir das Magnetfeld der Erde erfühlen, wir werden nie in Pheromonen singen, aber wir können die gesamte Information, die in solchen Sinneswelten enthalten ist, in unser eigenes kleines Sinnesreich herüberholen.
26.2 Die natürliche Anregung durch die Komplexität der japanischen Schriftzeichen verstärkt noch die Stimmung, die durch die Kalligraphie zum Ausdruck gebracht wird. Oben stehen zwei Beispiele der einfach-linearen, klaren Kanzleischrift reisho , wie sie für Schlagzeilen in Zeitungen und in Steingravuren verwendet wird. Unten sehen wir die weiche, elegante wayo -Schrift, die bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sehr verbreitet war.
26.3 Die immanente Schönheit eines Panjabi-Texts wird wie bei vielen anderen Sprachen auch dadurch verstärkt, dass seine Symbole sehr nah am höchsten automatischen Erregungswert liegen.
Indem wir diese Fähigkeit nutzen und darüber hinaus die Geschichte des Menschen betrachten, können wir Einblick in Ursprung und Natur ästhetischer Urteilsfindung nehmen. So ergaben etwa neurobiologische Messungen, insbesondere Erhebungen der Ströme von Alpha-Wellen während der Wahrnehmung abstrakter Muster, dass das Gehirn am meisten von Mustern stimuliert wird, deren Elemente ungefähr zu 20 Prozent redundant sind – das entspricht in etwa dem Komplexitätsgrad eines einfachen Labyrinths, von zwei Umdrehungen einer logarithmischen Spirale oder eines asymmetrischen Kreuzes. Vielleicht ist es Zufall (obwohl ich das nicht glaube), dass etwa derselbe Grad der Komplexität auch in sehr vielen Teilbereichen der Kunst vorherrscht – bei Friesen, Schmiedearbeiten, Signets, Logogrammen und Flaggenmustern. Selbst in den Hieroglyphen aus dem alten Ägypten und aus Mittelamerika findet er sich, ebenso in den Piktogrammen und Buchstaben moderner asiatischer Sprachen. Dasselbe Komplexitätsniveau liegt zum Teil der Attraktivität von primitiver Kunst und modernem abstraktem Design zugrunde. Das dürfte daran liegen, dass dieser Komplexitätsgrad dem entspricht, was das Gehirn in einem Augenblick maximal verarbeiten kann; so können wir etwa mit einem einzigen Blick nicht mehr als sieben Gegenstände zählen. Ist ein Bild komplexer, so erfasst das Auge seinen Inhalt, indem es Sakkaden
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