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Die spaete Ernte des Henry Cage

Die spaete Ernte des Henry Cage

Titel: Die spaete Ernte des Henry Cage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Abbott
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zog sie eilig in die Ankunftshalle.
    »Was machen die Männer da?«
    »Das sind Chauffeure, Hal. Auf den Karten stehen die Namen der Personen, die sie abholen wollen.«
    »Dann holt mich auch jemand ab.«
    Hal hatte die beiden Männer als Erster gesehen. Sie standen zwischen den wartenden Chauffeuren; Henry hielt ein Schild hoch: In großen roten Buchstaben stand der Name des Jungen auf der Rückseite von einer von Jacks Speisekarten.

25.
    Maude hatte sich zu ihrer Mutter zurückgezogen, um Trost zu suchen. Allerdings hatte sie ganz vergessen, dass ihre Mutter ihr niemals auch nur den leisesten Trost gespendet hatte. Mrs Singer war eine stille Frau, die in einem stillen Haus mit einem meist schweigsamen Mann lebte. Sie war Steuerberaterin in einer nahe gelegenen Kanzlei, in der sie dank ihres mangelnden Überschwangs schon bald einen höheren Posten erklommen hatte. Ihr Mann war Versicherungsmakler und pendelte nach High Holborn. Wochentags trugen sie beide ähnlich konservative Kleidung. Mrs Singer hatte den Kragen ihrer weißen Bluse ganz im Stil der Kricketstars der Fünfziger über den Kragen ihres Jacketts geschlagen. Mr Singer knöpfte sein Hemd bis zum Kragen zu und legte eine seiner fünf Wochentagskrawatten an, die er in strenger Reihenfolge trug, eine so dezent wie die andere.
    Seit der Geburt seiner Tochter im Jahr 1969 hatte Mr Singer in seiner Ehe eine nachgeordnete Rolle übernommen.Er hegte eine übertriebene Hochachtung für die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern, und als Maude es mit einer Karriere im Ballett ernst meinte, war er überglücklich. Das war nun wirklich Frauensache, da musste er sich nicht weiter einmischen.
    Also hatte Mrs Singer mit ihren Arbeitsstunden jongliert, um Maude zu den Ballettstunden nach Bristol zu fahren und sie wieder abholen zu können. Es war Mrs Singer gewesen, die sie nach London zum Vortanzen in die Royal Ballet School gebracht hatte, und auch die Schecks für Maudes Unterricht hatte sie unterschrieben.
    Angesichts der Eigensinnigkeit ihrer Tochter hatte Mrs Singer ihre Pflicht erfüllt, mehr nicht. Sie hatte bereits, als Maude fünfzehn war, erkannt, dass ihre Tochter nicht die richtige Figur für die große Karriere hatte; ein zu langer Oberkörper und zu kurze Beine, um jemals mehr erreichen zu können als die hintere Reihe in irgendeinem
corps de ballet
, aber definitiv nicht im Royal Ballet.
    Und so war es auch gekommen. Maude war von einer kleinen Truppe zur nächsten getingelt, hatte in kleineren europäischen Städten getanzt, häufig auf Bühnen, die auf Piazzas und in Parks errichtet worden waren. Die Musik kam aus einer Anlage, kein Orchester im Umkreis von zwanzig Kilometern. Als Maude über ein Lautsprecherkabel stolperte und sich das Knie verletzte, hatte das ihr (und allen anderen Betroffenen) einen ehrenvollen Abgang ermöglicht.
    Mrs Singer hatte sie weiter unterstützt, war aber wenig überzeugt, als ihre Tochter sich der Kunstgeschichtezuwandte. Warum, so fragte sie sich, konnte sich diese junge Generation nicht einfach eine Arbeit suchen? Wozu dieser Drang nach Selbstverwirklichung? War denn ein Beruf, der einem das Essen auf den Tisch brachte, nicht gut genug? Warum musste die Arbeit auch noch die Seele nähren? Sie selbst hatte sich diesen Luxus niemals erlaubt und war deswegen von den Erwartungen ihrer Tochter verwirrt.

    Maude hatte schon vor langer Zeit erkannt, wie verhalten ihre Mutter sie unterstützte. Bei der jährlichen Abschlussvorstellung in der Ballettschule, die stets in einem richtigen Theatersaal stattfand, manchmal sogar im Opernhaus selbst, galt es für die Eltern, Verwandten und Freunde als Pflicht, stehend zu applaudieren.
    Bei der Verbeugung der Tänzerinnen konnte Maude stets sehen, wie ihre Mutter, angeregt durch das Beispiel ihrer Sitznachbarn, aufstand und applaudierte, aber sie war die einzige Person im ganzen Zuschauerraum, die es schaffte, zu klatschen, ohne dabei zu lächeln.
    Gefühle wurden im Hause Singer tunlichst vermieden. Nicht ein einziges Mal hörte Maude, dass ihre Eltern laut wurden. Seit ihrem zwölften Lebensjahr war das für ihre Eltern angenehme Schweigen beim gemeinsamen Essen für sie die reinste Folter. Das Klappern des Bestecks, das feuchte Schmatzen der Kaubewegungen und das deutlich hörbare Schlucken trieben sie mehr oder minder für immer vom Familientisch fort. Maude sorgte dafür, dass sie zu den Mahlzeiten bei Freundinnen war oder, wenndas nicht klappte, erfand sie Gastgeber und aß

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