Die Spinne (German Edition)
neue Millennium, verstehst du? Es war Zeit, nicht mehr nur einer Nation zu dienen, sondern der gesamten Welt. Diese PR-Parole hatte ihm Alexandra noch nie abgenommen, dafür kannte sie ihn einfach zu gut. Jetzt blickte er sie traurig an. Ich hab es getan, um mein Leben zu retten. Angst um mein Leben war der Grund. Und dein Bruder. Nach kurzem Stocken erzählte er ihr die Geschichte.
Als Milo mit fünfzehn zu ihnen kam, war er durch und durch Amerikaner. Seine Pflegeeltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und Jewgeni holte ihn zu sich nach Moskau, was zu wochenlangem Familienchaos führte. Alexandra und Natalia – und selbst ihre Mutter Ekaterina – hatten nichts von seiner Existenz gewusst. Erinnerst du dich noch, wie er war? Ein echter Quälgeist. Doch wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass die drei Jahre von 1985 bis 1988, die er bei uns war, für mich den Anfang meiner Entfernung von Mütterchen Russland markiert haben.
Der bissige amerikanische Teenager hatte seinen Vater in perfektem Russisch, das er im Handumdrehen gelernt hatte, als KGB -Heuchler beschimpft. Hast du Scheuklappen auf? Du bist ein Verbrecher. Redest vom Proletariat, aber in Wirklichkeit unterdrückst du das Proletariat doch nur. Du steckst in deiner selbstgefälligen, kleinbürgerlichen Welt fest und nimmst deine Verbrechen gar nicht wahr.
Er klang genau wie seine Mutter , gestand ihr Jewgeni.
Doch erst als der Junge zum Studium nach Amerika zurückgekehrt war, konnte sich Jewgeni der Frage stellen, ob etwas Wahres daran war. Sogar Ekaterina gab zu, dass Milo nicht völlig unrecht hatte.
Du hast also dein Leben geändert, weil dir ein Teenager Heuchelei vorgeworfen hat? Alexandra musterte ihn skeptisch.
O nein. Dazu war viel mehr nötig, das war nur der Anfang.
Als der KGB in den Neunzigerjahren zum FSB umgebaut wurde, gelang es Jewgeni durch geschicktes Lavieren, seinen Rang und Sold als Oberst beizubehalten. Die Regierung Jelzin wollte ihn loswerden, aber die anderen lang gedienten Genossen waren dagegen, weil sie fürchteten, dass sie als Nächste dran glauben mussten. In einem Anfall von pragmatischem Egoismus traf er eine Vereinbarung mit der jungen Regierung und verriet seine alten Genossen wegen ihrer Teilnahme an dem Staatsstreich von 1991 gegen Gorbatschow. 1998 hatte er sich eine sichere Position im FSB erarbeitet, sich aber dabei eine Gruppe von Feinden gemacht, die ihm Anfang 2000 eine Bombe unters Auto legten. Es war der Tag, an dem Ekaterina allein zum Einkaufszentrum GUM fuhr.
Alexandra war zu dieser Zeit schon in London und als Anwältin tätig. Sie hörte die Nachricht am Telefon und las später einen ausführlichen Bericht auf der Webseite von BBC World News.
Du warst erschüttert , sagte sie.
Natürlich war ich das. Aber den folgenden Teil der Geschichte kennst du noch nicht, also hör zu.
Jewgeni brauchte vier Monate, um die fünf Männer aufzuspüren, die für Ekaterinas Ermordung verantwortlich waren. Zwei verhaftete er, die drei anderen tötete er mit seinen eigenen Händen.
Ihre erste Reaktion war Entsetzen, doch dann nahm sie sich zusammen. Sie hatte ihn selbst um Offenheit gebeten. Ich hatte ja keine Ahnung.
Dafür habe ich gesorgt.
Damit hätte die Angelegenheit beendet sein müssen, und eine Weile redete sich Jewgeni ein, dass es tatsächlich so war. Doch dann wurde er langsam, Woche für Woche, immer kränker. Außer seinem regelmäßigen Konsum von Wodka und Whisky hatten die Ärzte nichts zu bemängeln, dennoch konnte er Ende des Jahres kaum noch das Haus verlassen.
Wo war ich damals? , fragte sie.
Du warst beschäftigt. Und ich wollte dich nicht behelligen, weil ich etwas wusste, das meine Ärzte nicht wussten. Mein verlorener Sohn hatte recht gehabt: Du nimmst deine Verbrechen nicht mal wahr. So war es. Ich habe nichts gemerkt, nur mein Körper hat rebelliert und Selbstmord auf Raten begangen.
Der Wechsel zu den Vereinten Nationen verschaffte ihm tatsächlich Linderung, und auch wenn seine alten Kollegen über den diplomatischen Treibsand glucksten, in dem er unweigerlich versinken würde, spürte er, wie er mit jedem erfolgreichen Schritt wieder Kraft gewann.
Mit jeder guten Tat? Die boshafte Replik konnte sie sich nicht verkneifen.
Gute Taten sind eine Frage der Perspektive, Sascha. Wenn man von der Richtigkeit des eigenen Handels überzeugt ist, dann steht man auch dahinter, und es wird vielleicht wirklich zu was Gutem.
So kam es, dass Alexandra in das Haus der
Weitere Kostenlose Bücher