Die Spinne (German Edition)
jemanden besuchen. Aber wen? Alan Drummond?«
»Vielleicht Xin Zhu.«
»Können sich Ihre Leute Zugang zu den Hoteldaten verschaffen?«
Augenzwinkernd kramte Oskar wieder sein Handy heraus.
Und tatsächlich, als sie im Taxi saßen und auf der Autobahn um den grünen, gebirgigen Saum von Lantau Island die aus dem Wasser ragenden buckligen, grünen Inseln betrachteten, zirpte Oskars Telefon und informierte ihn, dass am Vortag ein gewisser Sebastian Hall Zimmer 212 bezogen hatte.
Sie überquerten den Lantau Link und fuhren Richtung Süden weiter zu den farbigen Containerwänden auf Stonecutters Island und den übereinandergestapelten Autobahnen, bevor sie tief in das großstädtische Gestrüpp der Wolkenkratzer und Häfen von Kowloon eintauchten. Chinesische und englische Schilder zeigten ihnen den Weg zum Victoria Harbor, und angesichts der vielen Eindrücke wechselten sie kein Wort mehr über den Zweck ihrer Reise. Doch der Grund war nicht paranoide Furcht vor Xin Zhu oder Milo Weaver, sondern das sinnliche Vergnügen an einem Meer von Farben.
Als sie vor der klassischen europäischen Fassade des Peninsula Hotel an der Salisbury Road eintrafen und ihr ein Portier mit weißen Handschuhen die Wagentür öffnete, erspähte Alexandra sofort Dachshund, einen groß gewachsenen Malaysier mit Schnurrbart. Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, um zu signalisieren, dass alles normal war. Oskar wiederum machte sie auf seine Agentin aufmerksam, eine kleine, gedrungene Person, die sich laut mit einem Sicherheitsbediensteten in Zivil unterhielt, um ihn von Alexandras und Oskars Ankunft abzulenken.
In der Lobby reichte sie ihm ihren Pass. »Melden Sie uns beide an, ich gehe rauf.«
»Ich komme mit.« Oskars Lächeln verschwand.
»Ich habe schon mal mit ihm geredet. Wir kennen uns. Rufen Sie mich an, sobald Sie das Zimmer haben.«
Einen Moment lang musterte er sie scharf, dann steuerte er auf den Empfang zu.
Sie teilte sich den Lift mit einer älteren Chinesin, die im zweiten Stock ausstieg, und auf diese Weise konnte Alexandra erkennen, dass diese Etage nicht von Sicherheitskräften überwacht wurde. Gleiches galt für den dritten Stock. Es war nach neun Uhr am Morgen, und vor einigen Türen lagen Zeitungen wie Fußmatten, vor anderen standen benutzte Tabletts. Über die Treppe gelangte sie wieder hinunter in die zweite Etage. Die ältere Dame war bereits in ihrem Zimmer verschwunden, und Alexandra befand sich allein im Gang. Schnell hatte sie Nummer 212 gefunden und atmete tief durch. Sie pochte an die Tür. Schweigen. Wieder klopfte sie, etwas lauter, und rief wie schon einmal in breitem Yorkshire-Akzent: »Charlie? Ich weiß, dass du da drin bist!« Stille. Nichts. Eigentlich hatte sie angesichts der schon bestehenden Verbindung zu ihm wenigstens eine Bemerkung erwartet. Nun schlug sie dreimal mit der Seite ihrer Faust dagegen. »Charlie, ich geh hier nicht weg! Ich …«
Die Tür 212 klickte und schwang fast gleichzeitig nach innen. Das Licht aus dem Korridor drang nur schwach in das Dunkel im Zimmer vor, in dem alle Jalousien nach unten gezogen waren. Sie konnte den Mann hinter dem Türrahmen nur schemenhaft erkennen. Die Spitze eines Lacklederschuhs. Eine graue Hand, die mit einer SIG Sauer auf sie zielte. Ein halbes Gesicht.
»Oh«, machte sie. »Sie sind gar nicht Charlie.«
»Nein«, entgegnete der Mann. »Und jetzt verschwinden Sie. Sofort. «
Teil 4
Permanente Revolution
Montag, 2. Juni bis Dienstag, 1. Juli 2008
1
Von den Überraschungen , die Xin Zhu in diesen Wochen erlebte, war Liu Xiuxius herausragende Arbeit die wohl größte. Er hatte sie voller Zuversicht rekrutiert, weil er in ihr eine geborene Agentin witterte, doch er hatte sie nur so kurz kennengelernt, dass er schon bald nach ihrer Abreise mit He Qiang nach Amerika von Zweifeln geplagt wurde. Aber im Grunde war es nicht anders als bei der Liquidierung der Touristen: Nachdem die Aktion angelaufen war, konnten ihn Zweifel nur von seiner Aufgabe ablenken. Daher schob er sie beiseite und wandte sich dringenderen Dingen zu.
Die Zeit zum Beispiel. Man hatte ihm zwei Wochen eingeräumt, um das amerikanische Problem aus der Welt zu schaffen, doch als sich der Ausschuss am 2. Juni, drei Wochen vor Jewgeni Primakows Tod, zum zweiten Mal zusammensetzte, hatte er gerade einmal Alan Drummond unter seine Kontrolle gebracht, und die Verführung Stuart Jacksons durch Liu Xiuxiu befand sich erst im Anfangsstadium. Auf die Frage, wie viel Zeit er noch
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