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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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Wohnung und eine Liste bevorstehender Veranstaltungen – Wohltätigkeitsdiners, Kundgebungen und Kulturabende –, bei denen mit einem hohen Aufkommen Washingtoner Prominenz zu rechnen war: Leute wie der Senator Nathan Irwin und der pensionierte CIA -Beamte Stuart Jackson, der nach wie vor in der Politik mitmischte. Nachdem sie sich auf mehrere Termine verständigt hatten, besorgte Sam Kuo Einladungen für Liu.
    Ihren ersten öffentlichen Auftritt hatte sie als Gast des Botschaftsarztes bei einem Diner für eine Wohlfahrtseinrichtung zur Finanzierung der Leukämieforschung. Da keine der beiden Zielpersonen erschienen war, nutzte sie die Gelegenheit einfach, um Gespräche anzuknüpfen. Doch zwei Abende später, am 27. Mai, als sie in Sam Kuos Begleitung eine Aufführung der Oper Elektra im Kennedy Center besuchte, stellten beide erfreut fest, dass Stuart Jackson zugegen war – ohne seine Frau. Jackson war der einzige der drei Verschwörer, den Kuo persönlich kannte. »Das Glück ist auf unserer Seite«, schrieb Liu Xiuxiu. »Er ist ein großer Mann, steif und weißhaarig, aber stolz darauf. Außerdem sehr religiös. Ohne zu viel versprechen zu wollen, denke ich, dass es nicht schwierig sein sollte. Die Menschen mit den größten Barrieren lassen sie nicht stückweise fallen; wenn sie schwach werden, stürzen die Mauern komplett ein.«
    Zuerst machte sich Xin Zhu Sorgen, dass Liu Xiuxius Zuversicht übertrieben sein könnte. Schließlich hatte sie ihre Erfahrungen innerhalb der Grenzen des chinesischen Festlands gesammelt. Nur jemand mit außergewöhnlichen Fähigkeiten war in der Lage, sich in so kurzer Zeit die feinen Nuancen einer fremden Umgebung anzueignen. Allerdings musste er auch berücksichtigen, dass sie bei ihrer Arbeit vorwiegend mit Ausländern zu tun gehabt hatte und dass sie wie der Rest der Welt aus dem Kino bereits viel über amerikanische Lust und Liebe wusste. In einem besonders philosophischen Bericht notierte sie: »Das Bild amerikanischer Beziehungen in Hollywood ist bestimmt genauso wenig perfekt wie das Bild des Arbeiterlebens in unseren Filmen. Aber das amerikanische Publikum erkennt darin eine Art angemessenes romantisches Verhalten und passt sich emotional an. Das weiß ich von meinen Kunden; sie stellen sich unter erfüllendem Sex etwas vor, das sie in einem Pornofilm gesehen haben und das ihnen – und zwar nur ihnen – bisher vorenthalten wurde. Dazu sind Amerikaner sogar enttäuscht, wenn ihre Beziehungen nicht von glücklichen Fügungen und kleinen Wundern wie im Kino bestimmt werden. Das ist sicherlich auch einer der Gründe für die hohe Scheidungsquote in diesem Land.«
    Offenbar hatte sie gründlich über diese Dinge nachgedacht, und jetzt hatte sie die Gelegenheit, ihre Theorien in der Praxis zu erproben. Um Jackson die Sache möglichst leicht zu machen, hatte sie sich ihm mit dem westlichen Namen Sue vorgestellt. Und um seine Neugier zu wecken, gab sie sich als Malerin aus und füllte ihre Wohnung mit großen abstrakten Bildern, die nicht signiert waren und die Sam Kuo von einem ihm bekannten Künstler gemietet hatte.
    Zwei Tage nach der Oper im Kennedy Center traf sie Jackson »zufällig« in einem Café in der Nähe seines Hauses in Georgetown. Ein Lächeln, ein bescheidenes Lachen und während der kurzen Unterhaltung eine flüchtige Berührung am Arm. Ein herausgerutschtes Bekenntnis: »In Gegenwart mächtiger Männer werde ich schwach.« Eine Anregung für die Zukunft: »Meine Freundin und ich gehen nächste Woche ins Flashpoint zu einem Theaterstück – was es ist, weiß ich gar nicht, aber sie schwört, dass es interessant wird.« Dann beim Abschied: »Entschuldigen Sie bitte mein albernes Geplapper.« Diese Bemerkung forderte ihn zum Widerspruch heraus, doch bevor er antworten konnte, floh sie aus dem Café und ließ ihn mit dem Wunsch zurück, sie wiederzusehen und ihr zu versichern, dass er ihre Konversation keineswegs albern fand.
    Dass er am Mittwoch, den 4. Juni tatsächlich in dem kleinen Theater auftauchte, war fast zu schön, um wahr zu sein. Liu Xiuxiu war mit einer chinesisch-amerikanischen Tänzerin erschienen, Sam Kuos Geliebter, und in der Eingangshalle nahm sie keine Notiz von Stuart Jackson, bis er direkt neben ihr stand. Lächelnd streckte er ihr die Hand hin. Sie reichte sie ihm und beugte sich dann vor, um sich von ihm auf die Wangen küssen zu lassen – was er zwar nicht vorgehabt hatte, ihr in dieser Situation aber nicht verweigern konnte. Sie

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