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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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benötigte, gab sich Zhu den Anschein, sorgfältig nachzudenken. »Um Fortschritte zu erzielen? Zwei weitere Wochen. Für eine endgültige Lösung? Einen Monat, wenn alles gut geht. Vielleicht auch eineinhalb.«
    Mehrere Sekunden lang schwiegen alle. Sie starrten auf ihren Schoß, die Wände, den Boden. Nur Sun Bingjun beobachtete Zhu mit einem leisen Lächeln um die Mundwinkel, wie in freudiger Erinnerung an einen Morgen mit der Flasche. Diese Möglichkeit jagte Zhu tiefen Schrecken ein, denn bisher hatte sich Sun Bingjun als sein wichtigster Verbündeter erwiesen.
    In gespielter Erbitterung riss Wu Liang die Hände hoch. »Ich denke, es ist Zeit für eine Abstimmung, doch zuvor möchte ich den Ausschuss daran erinnern, was Xin Zhu getan hat, als ihm keinerlei Zügel angelegt wurden. Er hat zahlreiche Menschen ermorden lassen, und er hat in einer Weise Misstrauen gegen angesehene Männer geschürt, dass einer von ihnen keinen anderen Ausweg mehr sah, als seinem Leben ein Ende zu setzen. Da drängt sich mir einfach die Frage auf, wie viele weitere Leichen sich in einem Monat auftürmen werden.«
    Sun Bingjun setzte sich aufrecht hin. »Mir hingegen drängt sich die Frage auf, wie viele chinesische Bürger zu Leichen werden müssen, wenn Xin Zhu nicht die Erlaubnis zur Fortsetzung seiner Nachforschungen erhält. Die Sicherheit von Millionen Olympiabesuchern ist mir wichtiger als das Leben von ein paar Amerikanern.« Er legte eine Pause ein, um diese selbstverständliche Wahrheit wirken zu lassen. »Wir wissen doch alle, wie es im Geheimdienst zugeht. Xin Zhu kann drei Wochen lang mit leeren Händen dastehen, und am nächsten Tag bricht vielleicht eine Flut über ihn herein. Wir dürfen Xin Zhu nicht in Fesseln legen.«
    Das Abstimmungsergebnis war vorhersehbar: Zwei Ausschussmitglieder sprachen sich dagegen und drei dafür aus, dass Xin Zhu die erforderliche Zeit erhielt, um seine Arbeit ungehindert zu beenden.
    Dieser Erfolg erfüllte ihn mit Zufriedenheit, doch dieses Gefühl war nicht von langer Dauer. Hector Garza alias José Santiago wurde in Moskau gesichtet, und zur gleichen Zeit reiste ein Tourist namens Tran Hoang in Südkorea ein – zumindest sein Pass überquerte die Grenze –, um sich danach in Luft aufzulösen. Und dann ließ Alan Drummond am Montag, den 9. Juni auf dem Weg nach Kambodscha, wo er sich mit Exiluiguren treffen und die von Leticia Jones in Peking begonnenen Gespräche fortsetzen sollte, den Anschlussflug in Seattle aus und tauchte mit einem Leihwagen unter. Fluchend versuchte Zhu den ganzen Tag über, Drummond zu erreichen, denn er musste einsehen, dass er einfach machtlos war, falls der Mann wirklich verschwunden war. Jemand, den man nicht findet, kann man auch nicht bedrohen. Umso erstaunlicher war es, als sich Alan Drummond am nächsten Tag am Telefon meldete. »Was ist?«
    »Wo sind Sie?«
    »In Tokio. Ich muss schon in einer knappen Stunde wieder los.«
    »Was machen Sie in Tokio?«
    »Es gab eine Planänderung. Weiterreise von Vancouver aus. Ich soll nach London fliegen, um mich mit ein paar Tibetern zu treffen.«
    »Sie hätten mich informieren müssen.«
    »Tut mir leid, Genosse.« Drummond klang ein wenig selbstzufrieden. »Ich hab Ihnen ja gesagt, dass diese Leute trickreich sind. Die lassen mich im Dunkeln tappen, bis sie Ihren Kopf haben. Und selbst dann erzählen sie mir wahrscheinlich nicht, was passiert ist.«
    In London dann tat er genau das, was Zhu befürchtet hatte: Er verschwand tatsächlich und hinterließ nur einen Hinweis – den Namen Sebastian Hall. Eine Katastrophe. Er brauchte gute Nachrichten, und er brauchte sie schnell, denn Wu Liang und der Ausschuss warteten auf seine Erfolgsmeldungen.
    Am Tag nach Zhus erstem Gespräch mit Milo Weaver glomm endlich der ersehnte Hoffnungsschimmer auf.
    Gemäß seinen Instruktionen hatte Liu Xiuxiu nach ihrer Ankunft in Washington alle vier Tage einen Bericht geschickt. Vielleicht aus Gefälligkeit schrieb sie sehr ausführlich und schilderte nicht nur Fakten, sondern auch ihre Überlegungen dazu, die ihm einen Einblick in ihre innere Welt verschafften. Anhand dieser Berichte konnte er verfolgen, dass sie stetige Fortschritte machte und, wichtiger noch, allmählich in ihre neue Umgebung hineinwuchs. Liu Xiuxiu war am 20. Mai mit He Qiang eingetroffen, und zusammen hatten sie den Botschaftsangehörigen Sam Kuo in einem Club in der Gegend des Dupont Circle aufgesucht. Dieser übergab ihnen die Schlüssel zu einer nahe gelegenen

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