Die Spinne (German Edition)
draußen ein Mann und eine Frau in Position, wie um Wache zu halten. Nach zehn Minuten war der ganze Spuk vorbei. Der Russe und seine Leute stiegen aus, und der Wagen fuhr weg, dann entfernten sich Primakows Helfer in verschiedenen Richtungen, der Mann und die Frau ebenso. Jewgeni Primakow dagegen kehrte ins Haus zurück.
Die Mikrofone zeichneten seine inneren Qualen auf. Er schenkte sich einen Drink aus dem Kühlschrank ein, dann lief er undeutliches Zeug murmelnd von Zimmer zu Zimmer. Er klang wie ein verwirrter alter Mann, der er wohl auch war. Schritte, stehen bleiben, Schritte. Schließlich verharrte er länger auf der Stelle, und sein russisches Genuschel wurde lauter. Trotzdem konnte Zhu nur ein Bruchstück verstehen: »… wenn sie nicht hier sind …«
Ein Glas wurde abgestellt. Schwere Schritte zur Wohnungstür hinaus und in der Ferne Pochen. Offenbar an der Tür des Nachbarn. Rufe: »Ihr seid da drin! Ich weiß, ihr seid da drin!« Erneut heftiges Pochen, dann Stille.
Als Jewgeni Primakow ins Apartment zurückkehrte und die Tür hinter sich zuzog, waren seine russischen Worte deutlich zu vernehmen. »Idiot. Verdammter alter Idiot.« Er war wütend auf sich und beschämt. Er trat ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Plätschern.
Über die Mikrofone konnten Zhu, He Qiang und Xu Guanzhong nun etwas hören, das Jewgeni Primakow nicht mitbekam. Die Wohnungstür öffnete und schloss sich wieder.
Das Wasser wurde abgestellt, und Primakow gab ein gedämpftes Ächzen von sich – anscheinend trocknete er sich mit einem dicken Handtuch das Gesicht ab, während er ins Wohnzimmer trat.
Dann das unverkennbare Schk-schk einer Pistole mit Schalldämpfer. Der dumpfe Aufprall eines Körpers auf dem Boden. Kurz darauf erneut das Öffnen und Schließen der Eingangstür.
Sobald Stille eingekehrt war, traf Zhu seine Anordnungen. »Xu Guanzhong bleibt, wo er ist. Dort drüben ist jemand, der genau weiß, was er tut. Ich möchte nicht das Leben meiner Leute aufs Spiel setzen.«
Also warteten sie ab, und in dieser Zeit musste Zhu an Jewgeni Primakow denken. Ähnlich wie Erika Schwartz erfüllte ihn tiefe Trauer darüber, dass dieser Mann in einem Brooklyner Apartment sein Ende gefunden hatte. Doch im Gegensatz zu Schwartz’ Gefühlen galt Zhus Trauer weniger Jewgeni Primakow persönlich – schließlich kannte er ihn kaum – als sich selbst. Würde auch er eines Tages irgendwo tot im Ausland liegen? Oder erwartete ihn ein noch unwürdigeres Ende – ein langsamer Niedergang durch politische Intrigen oder gar der leichte Ausweg, für den sich Bo Gaoli entschieden hatte?
Xu Guanzhong meldete Milo Weavers Ankunft um 19.40 Uhr, kurz nachdem Zhus dampfende Schüssel Congee serviert worden war. Zusammen verfolgten sie, wie sich Weaver durch die Wohnung bewegte. Zhu hatte keine Ahnung, wer Weavers Familie entführt und seinen Vater getötet hatte, aber ihm war klar, dass ihm jetzt nur noch eine Möglichkeit blieb, wenn er nicht enden wollte wie Jewgeni Primakow – tot oder zumindest völlig entmachtet. Er griff nach dem Telefon und wählte.
Milo Weaver meldete sich sofort mit einer Frage: »Wo sind sie?«
Das machte es für Zhu leicht, denn er musste nicht einmal lügen. »Aus dem Weg.«
Kurz nach acht tauchte Shen An-ling auf, und Zhu teilte ihm zunächst Liu Xiuxius Neuigkeiten mit. »Unser verliebter Verschwörer hat zugegeben, dass es einen Maulwurf gibt.«
Shen An-ling kniff die Augen zusammen. Er sah aus, als hätte auch er nicht viel Schlaf bekommen. Sein Haar war zerdrückt und ungewaschen, und er fuhr sich – vielleicht aus Verlegenheit – durch die fettigen Strähnen. »Einfach so?«
»Einfach so.«
»Ich weiß nicht.«
»Was?«
Shen An-ling hob den Blick vom Schreibtisch. »Glaubst du ihm?«
»Auf jeden Fall passt es zu unserer Theorie. Außerdem hat Jackson so eine Bemerkung fallen lassen. Er hat die Frau des Maulwurfs erwähnt und zwar auf eine Weise – Moment …« Er kramte einen Zettel aus einem Wust von Papieren. »Hier. Er hat sie als eine ›von Ehrgeiz zerfressene Zicke‹ bezeichnet.«
Wieder kniff Shen An-ling die Augen zusammen. Von den fünf Ausschussmitgliedern, die ihnen das Leben schwer machten, hatte nur Wu Liang eine Frau, der diese Beschreibung gerecht wurde. Chu Liawa war noch berühmter für ihren Ehrgeiz als für ihren mächtigen Mann. Doch ausnahmsweise war sich Shen An-ling nicht zu schade, einen naheliegenden Einwand vorzubringen. »Ist sie wirklich so gut?«
»Liu Xiuxiu?
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