Die Spinne (German Edition)
einzige Emotion, die er nicht verbergen musste. »Das habe ich alles Alan Drummond zu verdanken. Alan Drummond, Dorothy Collingwood und Nathan Irwin, diesem Kotzbrocken. Und dir, Leticia.«
»War keiner von uns, der abgedrückt hat.« Eine Spur von Kränkung schwang in ihrer Stimme mit.
»Wir beide wissen doch genau, wer abgedrückt hat«, zischte Milo, »und er hätte es nicht getan, wenn ihr nicht gewesen wärt.« Er starrte sie an, als wollte er sie gleich anspucken, und als beim Reden die Gefühle wieder in ihm hochkamen, hätte er sie tatsächlich fast angespuckt. Doch er bremste sich und nutzte lieber die Gelegenheit, um sie in die Enge zu treiben. »Ruf an. Ich will mit ihnen reden.«
»Mit deiner Familie?«
»Sie möchten bestimmt von mir hören.«
Leticia zuckte die Achseln. »Ich rufe an, mal sehen, was ich machen kann.« Doch solange sie in der Luft waren, zog sie das Handy nicht mehr heraus.
Es war sechs Uhr morgens, als sie nach elf Stunden in Hongkong landeten. Milo hatte eine Adderall von Leticia genommen – sie hatte in Dschidda ihre Bestände aufgefüllt –, und war hellwach, als er einem Uniformierten mit schnellen, gewandten Bewegungen seinen Pass vorlegte. Leticia hatte sich in eine andere Schlange eingereiht, und als Milo tief in Gedanken allein durch die glitzernde Flughafenhalle schritt, bemerkte er einen kleinen Mann in billiger Zivilkleidung, der beim Entgegenkommen seinen Blick auffing. Als er sich näherte, drehte der Mann die linke Hand nach vorn, um das darin liegende Handy zu zeigen. Milo öffnete seine rechte Hand, und als sich ihre Wege kreuzten, griff er nach dem Telefon und ließ es in die Jackentasche gleiten.
Das Handy klingelte nicht. Als er Leticia unter der futuristischen Markise über dem Taxistand traf, wo eine stetige Brise vom Südchinesischen Meer den Zigarettenrauch vertrieb, spürte er vor Anspannung einen starken Druck in der Brust. Leticia stieg in eins der roten Taxis, die Richtung Stadtzentrum fuhren, und er kletterte nach ihr auf die Rückbank. »Peninsula Hotel«, wies sie den Fahrer an. Er konnte nur hoffen, dass sie beobachtet wurden, denn ein Anruf von Zhu, während er neben Leticia Jones saß, hätte schlimme Folgen nach sich gezogen.
Das Telefon blieb stumm. Während sie Brücken überquerten, ausgedehnte Wasserflächen passierten und allmählich in das Gewirr von klaustrophobischen Wolkenkratzern eintauchten, verschaffte er sich in Gedanken noch einmal einen Überblick über die verschiedenen Akteure. Zhu, der aus der Ferne zuschaute. Leticia, die im Auftrag von Collingwood, Irwin und Jackson handelte, saß direkt neben ihm. Und irgendwo arbeiteten Erika Schwartz’ Agenten mit Alexandra und ihren UN-Leuten zusammen. Viele Beteiligte also, die jeweils in eine andere Richtung drängten. Das konnte in einer belebten Stadt wie Hongkong gewaltig ins Auge gehen.
Er spekulierte, was Leticia tatsächlich wusste. Hatte ihr Collingwood verraten, dass seine Familie entführt worden war, oder hatte sie Leticia belogen? War es möglich, dass Leticia glaubte, was sie ihm erzählt hatte?
Dann fiel ihm seine Schwester ein. Seine Schwester. Eigentlich konnte er noch immer nicht fassen, dass er Alexandra begegnet war und dass Jewgeni sie schamloserweise für seinen Dienst rekrutiert hatte. Bestimmt war sie die Assistentin, die keine Lust darauf hatte, seine Nachfolge anzutreten. Aber wer wäre schon scharf auf so einen Job gewesen?
Und schließlich erwachte in ihm der winzige, verzweifelte Sterbliche, der in uns allen lebt, auch in Touristen, und fragte sich, was wohl wäre, wenn Leticia doch zu den Guten gehörte. Wenn ihr Telefon klingeln und sie es ihm in die Hand drücken würde mit den Worten: »Hier, Milo – deine Frau ist am Apparat.«
Um das Peninsula Hotel mit seiner ausladenden Auffahrt, die auf dieser dicht bewohnten Insel wie ein unerhörter Luxus wirkte, herrschte reges Treiben, als sie aus dem Taxi stiegen. Leticia bedachte den Portier, der sie einließ, mit einem Lächeln. Erst in der cremefarbenen Lobby im Kolonialstil beugte sie sich zu Milos Ohr und sagte: »Alan ist in Zimmer 212. Wir sind hier, um ihn zu holen.«
»Du willst ihn entführen?« Milo sah sich in der Halle um. Ein wogendes Meer von Gesichtern in verschiedenen Tönungen.
»Wenn es sein muss. Er geht uns schon viel zu lange auf die Nerven.« Sie steuerte auf die Fahrstühle zu.
Milo fühlte sich überfordert von ihrer Eile und dem Gewirr von Nationalitäten. Aber was hatte er
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