Die Spinne (German Edition)
Beobachter zu erkennen, denn sie waren sicher überall. Er wusste nur, dass He Qiang im Moment nicht hier war. Er steuerte auf die Treppe zum zweiten Stock zu.
Auf halber Höhe des Gangs stand eine Tür offen, davor der Wagen einer Hotelbediensteten. Zimmer 212 lag dahinter am Ende des Korridors. Er ging langsam, ganz locker, und als er an der offenen Tür vorbeikam, warf er einen Blick hinein. Auf der anderen Seite des Wagens hatte sich der Mann postiert, den er für He Qiang hielt, und starrte ihn an. Milo stoppte, und seine Hand krampfte sich um die Pistole, doch der Chinese schüttelte den Kopf und winkte ihn weiter. Milo war sich nicht sicher, was er tun sollte. Man hatte ihn zu dem Zimmer dirigiert, und er spürte den instinktiven Drang, das Hotel wieder zu verlassen, egal, welche Antworten hinter dieser Tür warteten. Trotzdem setzte er seinen Weg fort. Die Antworten waren einfach zu verlockend. Schließlich stand er vor der Tür mit der Nummer 212 und klopfte. »Alan? Ich bin’s, Milo.«
Aus dem Zimmer drang nur Stille. Er überlegte, ob er sich wiederholen sollte, doch er war bestimmt gehört worden. Er wartete. Zwei Minuten verstrichen, und in dieser Zeit nahm er ein Flüstern hinter der Tür wahr. Eine Unterhaltung, aber nur eine Stimme. Er war also am Telefon. Milo tastete nach der Browning. Dann hörte er das Piepen eines Handys wie beim Beenden eines Gesprächs, und die Tür öffnete sich. Es war nicht Alan Drummond, sondern ein Asiate mit niedriger Stirn und Gesichtszügen, die eindeutig nicht chinesisch waren. Der Mann war Kambodschaner.
Dennoch war Milo nicht überrascht. »Ist er tot?«
»Kommen Sie rein.« Tran Hoang trat beiseite, um ihn in das dunkle Zimmer zu lassen.
4
Am Sonntagmorgen wusch sich Sung Hui gerade im Bad, als Zhus Telefon klingelte. Die Nummer kannte er nicht, doch er rechnete damit, dass sich Shen An-ling melden würde. Das Letzte, was er erwartet hätte, war die Stimme von Hua Yuan, der Frau des Selbstmörders Bo Gaoli. Seit dem Besuch in ihrem Heim im Reichenviertel Purpurjadevillen hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen, und er hatte sie völlig vergessen, weil er so viel um die Ohren hatte. Selbst für ihre Verhältnisse klang sie merkwürdig, so als hätte sie nach über einem Monat zum ersten Mal das Haus verlassen und entdeckt, dass die Welt während ihrer Abwesenheit ausgelöscht worden war. »Genosse Oberst, ich muss unbedingt mit Ihnen reden. Können Sie zu mir kommen?«
»Heute noch?« Vorsichtig hielt er nach Sung Hui Ausschau, die wahrscheinlich in die Küche hinübergegangen war.
»Ja, heute noch. Jetzt gleich. Es muss jetzt gleich sein.«
Irgendetwas an ihrem Ton weckte den Eindruck in ihm, dass das nicht stimmte, dass es nicht gleich sein musste, obwohl er nicht genau erklären konnte, was ihn auf diesen Gedanken brachte. »Können Sie mir vielleicht sagen, worum es geht?«
»Ich habe seine Sachen sauber gemacht. Die Sachen von meinem Mann. Und dabei bin ich auf einen Brief gestoßen, den er Ihnen geschrieben hat. Es ist sehr wichtig, Sie müssen ihn lesen.«
»Ich habe heute Vormittag leider zu tun«, antwortete er.
»Sie kommen sofort, sonst werden Sie mich kennenlernen!«, zischte sie.
Dass er zu tun hatte, war nur eine Lüge gewesen, um zu sehen, wie sie reagieren würde, doch jetzt war er nicht sicher, wie er ihre Reaktion deuten sollte. »Natürlich. Ich mache mich gleich auf den Weg.« Er senkte die Stimme. »Hua Yuan, Sie haben Angst. Warum?«
Zuerst antwortete sie nicht, und er hörte Geräusche im Hintergrund. Papierrascheln, vielleicht der Brief, den ihm Bo Gaoli geschrieben hatte. Dann hörte er etwas Unverkennbares: Weinen. »Bitte«, schluchzte sie. »Wenn Sie den Brief lesen, werden Sie begreifen. Beeilen Sie sich.« Sie legte auf.
Nachdem er sich angezogen hatte, fand er Sung Hui in der Küche; sie hatte Teewasser aufgesetzt. In der vergangenen Nacht hatten sie sich geliebt, und er konnte noch immer die Verbundenheit zwischen ihnen spüren. Er küsste sie auf die Stirn. »Ich muss los. Bin bald wieder zurück.«
»Lass uns heute Abend essen gehen.«
»Wenn du magst.«
Sie runzelte die Stirn.
»Was ist?«
»Was magst du denn, Zhu?«
Ihm lag auf der Zunge zu sagen: Ich mag, was du magst oder Ich bin glücklich, wenn du glücklich bist . Doch er wusste, wie albern solche Phrasen waren. »Ich mag dich . Hier zu Hause, im Restaurant oder in der Wüste. Mit dir ist alles besser.«
Ihr Stirnrunzeln war wie weggewischt.
Als er auf
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