Die Spinne (German Edition)
Beine zu bedecken. Er fasste in die Tasche – leer. Zwischen der Leiche und dem Boden musste es noch eine zweite Tasche geben, aber er wollte sie nicht bewegen.
Da klingelte sein Telefon.
»Ja?«
Shen An-ling meldete sich. »Wenn du möchtest, verbinde ich dich jetzt mit Milo Weaver.«
»Nur zu.«
Während er Milo Weaver mit Konsequenzen für seine Frau und Tochter drohte, strebte er wieder ins Wohnzimmer, um nach dem Brief zu suchen. Wenn ihn Hua Yuan erwartet hatte, dann hatte sie den Brief sicher herausgeholt und ihn vielleicht sogar irgendwo offen hingelegt. Doch da war nichts. Vorsichtig die Blutlache vermeidend, durchstöberte er die Schubladen in der Küche. Als ihm Milo Weaver eröffnete, dass Alan Drummond wahrscheinlich vorhatte, ihn zu töten, überprüfte er gerade die Tische im Flur, und als ihm Shen An-ling in einer SMS mitteilte, dass Leticia Jones auf dem Rückweg zu Weavers Hotelzimmer war, schaute er sich im Speisezimmer um. Nach Beendigung des Gesprächs stieg er hinauf in Hua Yuans Schlafzimmer. Dort fand er zwar kleine Zeugnisse ihres Lebens – Quittungen, Briefe von Freundinnen und Verwandten, Rechnungen –, doch mit jedem vergeblichen Griff wuchs in ihm die Überzeugung, dass er die Tote umdrehen musste.
Also trat er wieder in die Küche und versuchte zuerst, das Kleid unter ihr herauszuzupfen, doch als er anfing, daran zu zerren, rutschte sie mit. Er stand auf und hob den Saum des Kleids hoch. Hua Yuan schaukelte leicht und rollte mit einem lauten Furz in die Ausgangslage zurück. Die Faust um den Stoff des Kleids gekrampft, schloss Zhu die Augen und griff in die verborgene Tasche. Seine Hand stieß auf mehrere feuchte, gefaltete Blätter, die er mithilfe von Zeige- und Mittelfinger herauszog. Schnell trat er zurück und ließ das Kleid fallen, als erneut Gase aus der Leiche entwichen. Dann floh er ins Bad und legte die Seiten auf den Toilettendeckel. Als er sich mit heißem Wasser und Seife die Hände wusch, musste er sich mit aller Kraft darauf konzentrieren, sich nicht zu übergeben.
Die Feuchtigkeit des Briefs stammte nicht vom Blut, sondern vom Urin. Vorsichtig trug Xin Zhu die Blätter ins Esszimmer, um sie nebeneinander auf den langen Tisch zu legen. Bo Gaoli hatte jeweils nur eine Seite der fünf Bogen beschrieben, und als sie allmählich trockneten, konnte Zhu am Tisch entlanggehen und den gesamten Brief lesen. Sobald er fertig war, machte er kehrt und begann wieder von vorn. Schließlich zog er einen Stuhl heraus und setzte sich. Dann rief er Sun Bingjun an.
»Verzeihen Sie«, begrüßte er den alten Mann, »Sie sind bestimmt beschäftigt.«
»Ich bin immer beschäftigt, Xin Zhu, zumindest behaupte ich das. Was ist los?«
»Wie gut kannten Sie Bo Gaoli, Genosse Generalleutnant?«
Zögern. »Wir haben gelegentlich zusammengearbeitet. Doch wir standen uns nicht besonders nah.«
»Und seine Frau?«
»Hua Yuan? Ich habe sie erst nach dem Tod ihres Mannes kennengelernt. Bei einem Kondolenzbesuch. Sie wirkte sehr gefasst.«
»Genosse Generalleutnant, wäre es möglich, dass Sie sich mit mir treffen? Ich befinde mich gerade in Hua Yuans Villa.«
»Um sie zu befragen?«
»Könnten Sie bitte kommen?« Er merkte, dass sich etwas Flehendes in seine Stimme stahl.
»Ist es etwas Ernstes, Xin Zhu?«
»Ernst ist untertrieben.«
Vierzig Minuten verstrichen, ehe Sun Bingjuns Mercedes hinter Xin Zhus Audi parkte. Inzwischen war es Viertel vor elf. Durch das große Fenster beobachtete Zhu, wie ein baumlanger, kräftiger Chauffeur ausstieg und dem Alten die Tür öffnete, der allein und mit grimmigem Gesicht auf das Haus zusteuerte. Sun Bingjun war noch nie ein großer Lächler gewesen, doch als er näher kam, gelangte Zhu zu der Einsicht, dass er im Lauf seiner Karriere ohnehin nur wenige lächelnde Männer gekannt hatte, denn das waren die, die unweigerlich in der Versenkung verschwanden und deren verbindliches Grinsen erst im letzten Moment vor ihrem Abgang ins Beben geriet. Lächeln gehörte nicht zu Sun Bingjuns Repertoire, im Gegensatz zum Trinken, doch selbst wenn er sich dem Alkohol hingab, ging er nie zu weit. Er hatte mehr Selbstbeherrschung, als es den meisten lieb war.
Zhu kam ihm bis zur Tür entgegen und führte ihn ins Wohnzimmer.
Mit deutlichen Anzeichen von Ungeduld schaute sich der Alte um. »Wo ist Hua Yuan?«
»In der Küche. Sie ist tot.«
Sun Bingjuns Haut zog sich knotig um die Augen zusammen. »Haben Sie sie umgebracht, Xin Zhu?«
»Sie hat mich heute
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