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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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Morgen angerufen, weil sie in den Sachen ihres Mannes einen Brief gefunden hatte. Er war an mich gerichtet. Anscheinend hatte sie Angst, wollte sich aber nicht näher äußern. Ich bin so schnell gekommen wie möglich.«
    »Aber wohl nicht schnell genug«, konstatierte Sun Bingjun.
    »Offensichtlich. Ich musste ihre Leiche bewegen, um an den Brief in ihrer Tasche zu gelangen.«
    »Sie haben also den Tatort verändert. Hoffentlich hat sich das gelohnt für diesen Brief. Ach …« Der Alte warf einen Blick durchs Fenster. »Und nächstes Mal sollten Sie mir vielleicht vorschlagen, selbst zu fahren.« Mit diesen Worten wollte Sun Bingjun offenbar die Grenzen von Zhus Dummheit darlegen, denn durch sein Erscheinen war er jetzt in die Angelegenheit verwickelt, und sein Chauffeur war Zeuge.
    »Kommen Sie.« Zhu führte ihn ins Speisezimmer. Er zog sich in eine Ecke zurück und wartete, bis Sun Bingjun die Seiten ein erstes Mal und dann wie Zhu vorhin noch ein zweites Mal gelesen hatte.
    »Nun.« Der Alte zögerte.
    »Sie verstehen jetzt sicher, warum ich Sie hergebeten habe.«
    Sun Bingjun hob den Kopf, um Zhu direkt zu fixieren. »Sie wollten, dass Ihnen jemand Ihre verzweifelte Lüge abnimmt.«
    Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den alten Veteranen anzurufen. »Das stimmt nicht.«
    Sun Bingjun trat zur ersten Seite und las vor: » Genosse Oberst Xin Zhu, ich schreibe Ihnen, um Ihre Aufmerksamkeit auf eine Verschwörung zu lenken, die die Grundfesten unserer Republik bedroht. Wo haben Sie das her? Aus einem dieser Schundromane, für die sich die heutige Jugend so begeistert? Seite zwei.« Er machte einen kleinen Schritt in Zhus Richtung. »Ich wende mich an Sie in der Annahme, dass Sie aufgrund Ihrer früheren Auseinandersetzungen mit Wu Liang in der Lage sein werden, meine Beweise mit klarem Blick zu betrachten.« Sun Bingjun setzte ein verkniffenes Lächeln auf. »Sehr elegant. Sie verkehren Ihre Vorurteile in eine Tugend. Und hier …« Er senkte den Finger, um auf eine Passage auf Seite drei zu deuten. »Ich wurde gewarnt, dass Wu Liang Verdacht gegen mich geschöpft hat und mich schon in wenigen Tagen einbestellen könnte, um mich mit genau jenen Anschuldigungen zu konfrontieren, die ich gegen ihn erheben wollte. Deshalb werde ich diesen Brief so schnell wie möglich mit Kurier losschicken.« Sun Bingjun breitete die Hände aus und drehte sie hin und her. »Ziemlich trickreich. Sie zeigen, dass er sich geirrt hat, denn laut Datum – 21. April – hat ihn Wu Liang noch am selben Tag abholen lassen. Das ist natürlich tragisch, weil der Ärmste dachte, noch etwas Zeit zu haben, ehe ihn das Schicksal ereilt. Deshalb konnte er den Brief auch nicht mehr absenden. Und deshalb blieb er unentdeckt, bis die arme Hua Yuan darauf gestoßen ist und als gute Ehefrau und Bürgerin sofort bei Ihnen angerufen hat. Aber hier …« Er hob den Zeigefinger. »Das ist die Krönung, finde ich.« Der Alte wandte sich einer Stelle auf der vorletzten Seite zu. » Mir ist klar, dass es für Sie nicht leicht sein wird, diese Vorwürfe bekannt zu machen, sollte ich tatsächlich nicht mehr dazu in der Lage sein. Aus diesem Grund schlage ich vor, dass Sie sich an den Genossen Sun Bingjun wenden, der bald in den Ruhestand geht und daher auch weniger Sorgen um seine Position haben muss. Er weiß, dass er keinen Spott zu befürchten hat. Großartig! Sie machen sich die Hände schmutzig, und dann haben Sie die Stirn, sich auf die Anweisungen in diesem Brief zu berufen, um mich in diese Schweinerei hineinzuziehen.«
    »Genosse Generalleutnant …«, begann Zhu.
    Doch der Alte brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen. »Ich kenne den Klatsch. Angeblich bin ich ein alter Säufer, der im Ruhestand in aller Stille verrotten wird. Das ist mir egal. Wenn ich tot bin, muss ich mich nicht mehr um meinen Ruf sorgen. Aber es macht mir was aus, wenn Jüngere diesen Klatsch glauben und meinen, dass ich mich leicht manipulieren und für ihre Zwecke einspannen lasse. Tatsache ist, dass ich etwas geschafft habe, das keiner von euch Jungen geschafft hat: Ich habe mich bis an meinen Lebensabend in der Schlangengrube der Pekinger Politik behauptet.«
    Stumm legte Xin Zhu die Hände auf die Schenkel. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Das Blut, die Leiche, der Urin und der Brief – all diese Dinge hatten ihn benebelt. Er hätte wissen müssen, dass Sun Bingjun nicht im Traum daran dachte, sich einzusetzen für … für wen eigentlich? Für einen Mann, der ein

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