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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olen Steinhauer
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der Ring Road Richtung Norden fuhr, läutete sein Handy erneut, und diesmal war es tatsächlich Shen An-ling, der aus Hongkong anrief. Zwar war He Qiang eingetroffen, um die Operation zu leiten, doch Zhu wollte noch jemand anders dabeihaben, der Verantwortung übernehmen konnte.
    »Hat er das Zimmer schon verlassen?«, erkundigte sich Zhu.
    »Nein, aber Leticia Jones und Milo Weaver sind jetzt in der Stadt. Sie haben kurz das Hotel betreten, es sich dann anders überlegt und sind im Kowloon abgestiegen.«
    »Sie haben dich also bemerkt?«
    »Ich war in der Lobby, aber sie haben He Qiang erkannt. Weaver hat ihn in New York gesehen.«
    »Schlampig.«
    »Ja«, pflichtete Shen An-ling ihm bei. »Immerhin konnten wir ihm am Flughafen ein Telefon übergeben. Wenn du willst, kann ich dich zu ihm durchstellen, sobald er allein ist.«
    »Ja, das wäre gut.«
    »Vor dem Zimmer ist eine Frau aufgetaucht.«
    »Vor Drummonds Zimmer?«
    »Sie hat nach einem Charlie gesucht. Drummond hat die Tür einen Spalt geöffnet und ein paar Worte zu ihr gesagt, dann ist sie abgezogen. Hat sich anscheinend in der Tür geirrt.«
    »Ist sie Gast im Hotel?«
    »Ja. Jennifer Paulson.«
    »Sag Bescheid, wenn sie den gleichen Fehler noch mal macht.«
    Kurz nach neun erreichte er die Purpurjadevillen. Offenbar hatte Hua Yuan die Wachen von seinem Kommen verständigt, denn sie warfen nur einen flüchtigen Blick auf seinen Guoanbu-Ausweis, ehe sie ihn durchwinkten. Von seinem ersten Besuch hatte er die Auffahrt noch frisch im Gedächtnis, doch obwohl alles genauso aussah, war die Atmosphäre irgendwie anders. Vielleicht war es der Anblick eines Arbeiters mit einem Rasenmäher auf einem fernen Hügel, der ihn daran erinnerte, dass es große Anstrengungen kostete, all diese Schönheit zu erhalten.
    Hua Yuan kam ihm nicht entgegen, also parkte er und steuerte allein auf die Tür zu. Im Vorbeigehen fiel ihm das Fehlen von Autos vor den Villen zu beiden Seiten auf. Die Luft war feucht, das Gras ebenfalls, und auf seinen Lederschuhen zeichneten sich dunkle Flecken ab. Erst als er an die Tür klopfte, beschlich ihn das Gefühl, dass auch dieses Haus leer war. Als hätte die Verwaltung des Areals rechtzeitig vor seinem Eintreffen noch schnell die Straße evakuiert.
    Sein Pochen blieb unbeantwortet, genauso sein zweimaliges Klingeln an der Türglocke. Unsicher fixierte er die schwere Tür, und schließlich probierte er vorsichtig die Klinke. Es war nicht abgesperrt, und sie ließ sich leicht bewegen.
    Er trat ein und schlüpfte instinktiv aus den Schuhen, um in Socken herumzutappen. Im Wohnzimmer blickte er durch das große, efeuumrankte Fenster hinaus auf sein Auto und die Wiesen dahinter. »Hua Yuan? Ich bin’s, Xin Zhu.« Keine Reaktion.
    Weiter hinten fand er ein Speisezimmer und nach einer Doppeltür eine lange, weiß geflieste Küche mit einem ausgedehnten Tresen in der Mitte. Es roch nach Rost. Die Neonlampen in der Decke brannten, und ihr Licht spiegelte sich hell in der Blutlache, die sich von der Schusswunde in der Stirn der Toten ausbreitete. Ihre Arme und Beine waren angewinkelt, als würde sie laufen.
    Sie trug ein bis zum Boden reichendes Kleid – ein anderes als bei seinem ersten Besuch –, das sich hinter ihr bauschte und ihre krampfadrigen Beine entblößte. Der Eindruck, dass sie lief und der Wind ihr Gewand hochwehte, wurde dadurch noch verstärkt. An ihrem linken Fuß hing ein blutbefleckter Pantoffel; der andere war völlig sauber und lag schräg vor dem Herd.
    Seit ihrem Anruf war ungefähr eine Stunde vergangen. Das bedeutete, dass sich der Mörder noch hier befinden konnte. Rasch durchwühlte er die Schubladen, bis er ein schweres Fleischerbeil von Hattori entdeckte. Dann streifte er langsam von unten bis oben durch das ganze Haus. Bei seinem bedächtigen Vorgehen dauerte es zwanzig Minuten, bis er alle Zimmer durchsucht hatte, und unterwegs fragte er sich mehrmals, warum er nicht einfach in der Küche geblieben war und Shen An-ling, die Polizei oder auch den Sicherheitsdienst der Purpurjadevillen verständigt hatte. Doch natürlich kannte er den Grund. Im Moment war er von Stille und Einsamkeit umgeben. Hätte er telefoniert, wäre es damit vorbei gewesen, und er brauchte Zeit, um zu überlegen, was geschehen war und an wen sich sein erster Anruf richten sollte.
    Zurück in der Küche, legte er das Beil wieder in die Schublade. Dann kauerte er sich ächzend neben Hua Yuan nieder und zog an einem Zipfel des Kleids, um ihre laufenden

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