Die Spinne (German Edition)
wussten alle, dass er zu Ende war.
Sun Bingjun ging nur kurz darauf ein. »Wir haben Ihre Äußerungen zur Kenntnis genommen, aber Sie täuschen sich in der Annahme, dass ich hier etwas hindrehe. Ich bin zu alt, um für jemanden den Kopf zu riskieren, dem ich nicht rückhaltlos vertraue.«
Wu Liang ließ sich keine Regung anmerken.
»Das Wort hat Xin Zhu.« Sun Bingjun nickte.
Zhu rieb sich über die Nase und setzte sich aufrecht hin. »Genossen, ich wäre lieber unter erfreulicheren Umständen und mit besseren Nachrichten hier, doch wir leben in schweren Zeiten. Ich bin noch immer dabei, mir einen Reim auf die Tatsachen zu machen, allerdings kann ich auf jeden Fall sagen, dass sie ein bedrückendes Bild zeichnen.«
Er begann mit einer Wiederholung der Verdachtsmomente, die sich aus der Auswertung der Akten der Abteilung Tourismus ergeben hatten: eine lose Ansammlung nachrichtendienstlicher Informationen, die in der Summe auf einen Maulwurf in der Verwaltung deuteten. »Allerdings war auch nicht auszuschließen«, bekannte er, »dass wir es nicht nur mit einem einzigen höherrangigen Spion zu tun haben, sondern mit mehreren – mindestens fünf – Informanten gleichzeitig. Diese Möglichkeit besteht nach wie vor, aber angesichts der neuen Erkenntnisse tritt sie wohl eher in den Hintergrund.
Kommen wir kurz auf unsere erste Sitzung in diesem Raum zurück. Sie erinnern sich an Wu Liangs traurigen Bericht über Bo Gaolis Selbstmord in einer Zelle an der East Chang’an Avenue. Ich denke, wir waren alle bestürzt von dieser Schilderung, und ich ganz besonders, weil ich mich verantwortlich fühlte. Also habe ich Hua Yuan besucht, um mehr darüber herauszufinden. In einer kurzen Unterredung erfuhr ich drei Dinge: Erstens hätte Bo Gaoli nie Selbstmord begangen. Hua Yuan hat mir unzweideutig zu verstehen gegeben, dass ihn nichts auf der Welt dazu hätte bringen können – schon gar nicht eine kleine Indiskretion oder die Scham über eine falsche Anschuldigung. Das hat sie nicht voller Respekt gesagt, müssen Sie wissen, sondern voller Abscheu. Sie hat diese Eigenschaft an ihm nicht bewundert. Zweitens hat sie mir erzählt, dass sie beim Ausräumen der Habseligkeiten ihres Mannes in einem Schrank eine Schatulle mit Bargeld entdeckt hat. Ungefähr dreihunderttausend Yuan. Sie hatte keine Ahnung, woher das viele Geld stammt und warum er es versteckt hat. Der dritte wichtige Punkt ist, dass Bo Gaoli am 20. April, also am Tag vor seiner Festnahme durch Wu Liang, versucht hat, mich persönlich zu erreichen. Das habe ich anhand der Telefondaten überprüft.«
Die allgemeine Unruhe erfasste nun selbst Sun Bingjun.
»Ich habe nie behauptet, mit Bo Gaoli befreundet gewesen zu sein. Wir waren nur Bekannte. Warum also, so meine Überlegung, wollte er sich an mich wenden? Mir fällt nur eine Möglichkeit ein, wie er auf mich gekommen ist: Er wusste, dass ich fünf Tage zuvor in einem Rundschreiben den Verdacht geäußert hatte, dass es im Ministerium für Öffentliche Sicherheit einen Maulwurf gibt. Einen anderen Grund kann ich mir nicht denken.«
Zhu legte eine Pause ein und ließ den Blick über die leeren, passiven Gesichter der Anwesenden wandern. Nur Wu Liang fixierte nicht ihn, sondern die verblichene grüne Wandfarbe.
»Was dann kam, wissen wir alle aus Wu Liangs eigener Aussage. Wu Liang hat Bo Gaoli festgenommen, und am 23. wurde er tot aufgefunden. Davor hatte er drei Tage abgeschnitten von der Außenwelt in einer Zelle verbracht und dann trotz angeblicher Bewachung rund um die Uhr Selbstmord begangen. Ich möchte hier nicht näher auf das Unwahrscheinliche dieses Ablaufs eingehen, sondern Sie nur bitten, es im Kopf zu behalten.
Wie bereits erwähnt kann ich nicht behaupten, Bo Gaoli wirklich gekannt zu haben, doch ich habe allen Grund zu der Annahme, dass er zum Wohle Chinas gehandelt hat. Dies vorausgesetzt, möchte ich einen anderen Ablauf dieser Woche im April skizzieren. Am Dienstag, den 15. verschickte ich den Rundbrief über den Spion im Ministerium. Bo Gaoli hegte schon länger einen Verdacht gegen Wu Liang, konnte sich damit aber an niemanden wenden. Wir wissen alle, dass kaum ein Verwaltungsbeamter mit unbeweisbaren Anschuldigungen seine Karriere aufs Spiel setzen würde. Am Freitag, den 18. gab ich meine zwölfseitige Liste mit chinesischen Informationen aus der Abteilung Tourismus frei. Ausgehend von dieser Liste schrieb Bo Gaoli den Brief, der Ihnen vorliegt, und stellte eine Verbindung zwischen
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