Die Spinne (German Edition)
flüstern. »Ich muss schlafen. Weck mich um sieben.«
He Qiang nickte.
»Schafft sie es bis acht?«
»Die wird dir bestimmt gefallen«, wisperte He Qiang. »Aus Xinyang. Wirklich nett, kennt sich gut aus in der Stadt. Wenn du magst, kann sie dir zeigen, was sie zu bieten hat.«
Zhu warf ihm einen scharfen Blick zu.
He Qiang hob die Hände. »Nur wenn du magst, wie gesagt.«
Zhu wusch sich, und kurz nach zwei lag er in dem großen, harten Bett. He Qiang stöpselte einen Kopfhörer in den Fernseher und legte eine DVD ein. Kurz vorm Einschlafen registrierte Zhu noch, dass es ein Bollywood-Film war. Anscheinend mochte He Qiang die Musik und das Melodramatische solcher Produktionen. Er hätte nie vermutet, dass der Mann ein Träumer war. Xin Zhu war jedenfalls keiner, was sein traumloser Schlaf bewies.
He Qiang schüttelte ihn sanft an der Schulter, um ihn zu wecken, und deutete auf eine Tasse heißen schwarzen Tee, die neben einem mit kindlichem Gekrakel beschriebenen Blatt Papier auf dem Nachttisch stand. Als er den Tee schlürfte, las er He Qiangs Bericht über die Zeit im Hotel. Wen er unten auf der Straße bemerkt hatte, wie oft und wann im Zimmer angerufen worden war (ohne dass er sich meldete natürlich), und das Benehmen des Personals beim Betreten des Raums. Nach seiner Ankunft hatte er ein anderes Zimmer genommen, dennoch hatte er eine Kamera in einer Deckenlampe und zwei Mikrofone gefunden. Die Kamera und ein Mikrofon beseitigte er, das andere Mikro ließ er unberührt. Niemand hatte versucht, etwas auszutauschen. Nach He Qiangs Einschätzung, die sich mit der Xin Zhus deckte, gab es eine Überwachung, die allerdings nicht mit großem Nachdruck durchgeführt wurde.
Dies bestätigte sich, als Zhu in einem der Anzüge, die He Qiang eingepackt hatte, mit dem Lift nach unten fuhr. Vor dem Jade on 36 lehnte ein athletisch wirkender junger Mann an der Wand und war in eine Ausgabe des People’s Daily vertieft. Er war angezogen wie ein Fabrikarbeiter vom Land, der sich bei einer Gala unter die reichen Stadtbewohner mischen will, doch offenbar traf niemand vom Hotel Anstalten, ihn hinauszuwerfen. Zhu passierte ihn ohne einen Blick und suchte sich einen Platz am Ende der glitzernden Bar.
Die Frau war Mitte zwanzig, mit zierlichen Knochen, einer breiten, flachen Nase und leuchtenden Augen. Sie fand ihn, als er gerade sein zweites Glas leer trank, und stellte sich höflich als Liu Xiuxiu vor, ehe sie auf dem Hocker neben ihm Platz nahm. In der Ecke spielte ein Weißer Cool Jazz auf dem Piano. Zhu bestellte ihr ein Glas Chardonnay, während er selbst bei seinem Glenlivet blieb. Wie Sung Hui stammte sie aus Xinyang, doch damit endeten die Ähnlichkeiten bereits. Diese Frau wusste genau, was sie wollte.
Die Unterhaltung begann mit Äußerlichkeiten, und er bewunderte schon bald, wie geschickt sie es verstand, dem Themenfluss zu folgen und ihn in unauffälliger Weise zu lenken. Wie bei den meisten Gesprächen in dieser Woche rückten Wenchuan und die gesamte zerstörte Provinz Sichuan bald in den Mittelpunkt.
»Fünfzigtausend«, bemerkte Liu Xiuxiu. »So viele Menschen kann ich mir nicht einmal vorstellen. Wenn es unbedingt sein müsste, könnte ich vielleicht so weit zählen, aber meine Fantasie kommt da nicht mehr mit.«
»Ab einer bestimmten Zahl streikt einfach der Verstand«, bestätigte er.
»Genau.«
Er nahm einen Schluck Whisky. »Aber Erdbeben kratzen nur an der Oberfläche. Beim Großen Sprung nach vorn sind in drei Jahren mindestens zwanzig Millionen durch anhaltende Hungersnot ums Leben gekommen. Mit dieser Zahl schlage ich mich schon seit Jahrzehnten herum, doch ich werde sie wohl nie begreifen.«
Es war nur angemessen, dass Liu Xiuxiu still wurde und in ihr Glas blickte. Eine weniger kompetente Hostess hätte vielleicht gesagt: Mit Politik kenne ich mich nicht aus. Doch Liu Xiuxius Schweigen ließ darauf schließen, dass sie genug wusste, um lieber den Mund zu halten.
Xin Zhu hingegen hatte auf nüchternen Magen getrunken, und das trübte vorübergehend sein Urteilsvermögen. »Xinyang hat es damals schwer getroffen. Die politischen Phrasen sind wunderschön – damit sprechen wir einfach von den drei Jahren der Naturkatastrophen. Doch die Ereignisse damals waren alles andere als natürlich. Die Lebensmittel waren vorhanden, sie lagen in den Silos, bloß durfte niemand was davon essen, weil das Getreide zur Erfüllung von Quoten gebraucht wurde.« Lächelnd erhob er das Glas. »Auf den Großen
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