Die Spinne (German Edition)
anschauen. Im Vergleich dazu erscheinen meine eigenen Sorgen so unbedeutend.«
Das hörte er nicht gern, auch wenn es seine eigenen Gedanken widerspiegelte. »Du hast doch keinen Grund zur Sorge.«
»Möchtest du hier essen?«
»Ich glaube, ich schaffe es nicht mehr ins Esszimmer.«
»War es anstrengend in Shanghai?«
Er schüttelte den Kopf. »Ein Wochenende der Besinnung ist nicht einfach für einen begriffsstutzigen Menschen wie mich.«
Sie ließ ein melodisches Lachen hören und setzte sich zu ihm.
»Das Problem war der Rückflug. Ich hätte zwei Plätze reservieren sollen.«
»Nächstes Mal machst du das. Du nimmst mich mit, und ich helfe dir bei deiner Besinnung.«
Wie andere hatte er der Zuneigung dieser jungen Frau zu einem alten, korpulenten Mann zunächst nicht recht getraut, doch mit der Zeit hatte er herausgefunden, dass das genau die Eigenschaften waren, die sie am meisten genoss. Sung Hui hasste prahlerische Männer ihres Alters, und seine Beleibtheit vermittelte ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Bloß was hatte sie dann an Delun gefunden? Diesem Thema war sie so oft ausgewichen, dass er die Frage nicht mehr stellen konnte und auch nicht mehr stellen wollte. Manchmal war es besser, die Wahrheit nicht zu kennen.
Sie zog die Beine unter den Körper und hob die Platte. Mit zwei Porzellanstäbchen beförderte sie ein Klößchen in seinen Mund. Es schmeckte herrlich.
Während sie ihn fütterte, berichtete sie ihm von den zwei Tagen seiner Abwesenheit: Tanzen und Drinks mit zwei Freundinnen im Vics, der erfolglose Versuch, neue Teppiche für den Flur zu kaufen, und die Sorge um die Schulkinder aus Sichuan. Dazwischen hatte sie immer wieder in The Boat to Redemption von Su Tong gelesen, einem Bestseller über einen Parteifunktionär, der verstoßen wird, weil er sich als Kind revolutionärer Eltern ausgegeben hat.
»Weißt du, was er macht?«, fragte sie.
»Was?«
Pause. Sie bekam große Augen. »Er versucht, sich zu kastrieren! «
»Unglaublich!«
»Ich glaube es«, antwortete sie. »Du solltest es wirklich mal lesen.«
»Wenn ich Zeit habe.«
»Hast du überhaupt schon mal Zeit gehabt?«
Er atmete aus und wartete auf das Unvermeidliche.
»Zeit für dich«, fuhr sie fort. »An einem Ort mit frischer Luft und Liegestühlen. Wo du am Wasser sitzen und Su Tong lesen kannst.«
Er verkniff sich ein Grinsen. »Trier soll sehr nett sein.« Gleich darauf musste er husten, als sie ihn in die Rippen knuffte. Überall in Peking wurde für Pauschalreisen zum Geburtsort von Karl Marx geworben.
»Oh!« Mit einem Mal sprang sie auf und lief zum Schrank. »Das habe ich ganz vergessen. Im Laden ist mir Shen An-ling begegnet. Das soll ich dir von ihm geben.« Sie zog eine Schublade auf und nahm einen schlichten braunen Umschlag heraus. Shen An-ling hatte seine Unterschrift über das Siegel gekritzelt. Er war ungeöffnet.
Im hinteren Teil der Wohnung hatte Zhu ein kleines Büro. Nachdem er sich bei Sung Hui für das Essen bedankt hatte, zog er sich mit dem Umschlag dorthin zurück und setzte sich an den Schreibtisch, wo er aus dem dreißigsten Stock über die Stadt blicken konnte. Es war ihre Idee gewesen, in diesen Wolkenkratzer im Bezirk Chaoyang zu ziehen, und nur sie hatte ihn dazu überreden können, sich freiwillig derartig zu exponieren. Er hatte ihr eine ganz grundlegende Frage gestellt – Was ist, wenn der Strom ausfällt? – , und sie hatte ihn angestarrt, als hätte sie dergleichen noch nie erlebt, was in Peking völlig undenkbar war. Doch sie hatte sich einfach in die Wohnung verliebt und vor allem in die Vorstellung, dass sie zu zweit über der Stadt schwebten. Wie hätte er ihr diesen Wunsch abschlagen können?
Er riss den Umschlag auf einer Seite auf und schüttelte ein Blatt heraus. Der Brief war kurz und in einem obskuren Marinecode von 1940 verfasst. Nachdem er ihn entschlüsselt hatte, las er ihn zweimal durch. Er hielt kurz inne, um sich Shen An-lings Informationen durch den Kopf gehen zu lassen, und las das Schreiben noch einmal. Dann öffnete er das Fenster einen Spalt und zündete mit Streichhölzern den Umschlag, den Brief und die entschlüsselte Nachricht an. Während das Papier zu Asche schrumpfte, steckte er sich einen Hamlet an, und der starke Geruch breitete sich in dem kleinen Zimmer aus.
Nach Angaben von Shen An-lings Informanten hatte Leticia Jones nach der Landung in Kairo den Namen gewechselt und war weiter nach London geflogen, um eine Anschlussmaschine zum Dulles
Weitere Kostenlose Bücher